Poesie der Verluste

Melitta Brezniks Erzählungsband "Figuren"

Von Oliver JahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles erscheint wie in fahlweisses Zwielicht getaucht. Dämmer, Halbdunkel, verwischte Konturen, schraffierte Wirklichkeit. Da steht eine Frau an trübem Winternachmittag am Fenster eines Krankenzimmers und verfolgt, wie schwere Schneeflocken sich auf dem Rand der Scheibe niederlassen, sanft und leise. Hinter ihr liegt ein Freund im Sterben, hohlwangig und mit dunklen Augen, "das einzig Tröstliche schien die Infusionsflasche zu sein, die über dem Kopfende hing, wie ein guter Geist, der noch Leben einflößte, Tropfen für Tropfen."

Versunken am Fenster stehend, auf der Bettkante eines Sterbenden brütend, schlaflos hinaushorchend in das Dunkel der Nacht: so begegen uns die Erzählerinnen in den acht Geschichten, die die 1961 in Österreich geborene Melitta Breznik unter dem Titel "Figuren" versammelt hat. Acht Erzählungen einer Autorin, die als Ärztin und Psychiaterin in Zürich lebt, über den Abschied, acht Verlustanzeigen, acht kurze Momente, in denen die Zeit anhält und die Erinnerung einsetzt. "Figuren", das klingt abstrakt und abgezirkelt, gerade als solle jeder Sentimentalitätsverdacht bereits im Keim erstickt werden. Und doch äußern sich da in einem Ton müder Melancholie Augenblicke der Gleichgültigkeit, der Kälte, aber auch der Hilflosigkeit und der Überforderung. Fast möchte man meinen, das Leben eines Menschen lasse sich erzählen allein als die Summe seiner Verluste, als die Kette seiner Ernüchterungen.

Denn die Erinnerungen und Wiederbegegnungen, die hier aufgerufen werden, enthüllen sich als nicht ergriffene Gelegenheiten, verpasste Möglichkeiten und verworfene Lebensentwürfe. Wie bei jener Ärztin im Krankenhaus, die zu einer Selbstmörderin gerufen wird, die den Namen einer früheren Studienfreundin trägt. Oder bei jener Frau, die mitten in der Nacht auf die nervösen Schritte eines Freundes lauscht, der Jahre zuvor seine Bulimie hinter rauschenden Fressfesten zu verbergen wusste. Minuten später hört sie die Klospülung und schläft beruhigt wieder ein. Nichts hat sich verändert.

Ein alter Mann hat sich zum Sterben gelegt, seine Gedanken schweifen zurück in den Schützengraben, selbst die Angst vor dem Tod wird ihm zur bloßen Erinnerung. Zurück bleibt eine greisengesichtige Holzfigur unter dem Bett, geschnitzt in den Lazaretten des zweiten Weltkriegs, Teil einer hölzernen Armee, an der der Alte in seinen letzten Stunden noch einmal zu schaben beginnt.

Ein Psychiater erkennt bei einer Klinikbesichtigung in einer Patientin die Geliebte von damals, eine an ihrer Sehnsucht irre gewordene Frau, der er vor 50 Jahren im Spaß die Ehe versprochen hat. Dies ist die vielleicht aufrührendste Erzählung des Bandes. Am nächsten Tag kehrt der Mann in die Klinik zurück und beobachet die Frau. Ein verschämter Gruß findet keine Erwiderung - sie erkennt ihn nicht. Was mag in einem Mann vorgehen, der erkennen muss, auf solch verheerende Weise gefehlt zu haben? Als die Patienten aus dem Park in das Klinikgebäude zurückgeführt werden, legt er sich "der Länge nach hin, starrt ins dunkle Laub über ihm und schließt die Augen." Melitta Breznik verweigert bewusst jede Antwort, beschränkt sich in behutsam austarierter Mischung aus Wahrnehmungsschärfe und Introspektion, Taktgefühl und distanziertem Wirklichkeitssinn auf die Erfassung und Beschreibung der Symptome. Ein diagnostischer Blick, auf unpathetische Weise mitfühlend, der so nur aus der unmittelbaren Anschauung stammen kann.

Variationen der Einsamkeit beschreibt die Breznik, schlackenlos und ohne sentimentale Mätzchen. Fühllos und taub sind allenfalls die Oberflächen, an denen der Arzt herumtastet, unter der Haut jedoch bohrt nicht zuletzt das Gefühl von Schuld und Unbehagen. Und doch bleibt nicht nur der Linoleumgeruch der Krankenhausflure in der Nase. Einmal ruht für einen kurzen Moment der schwache Schimmer der Morgensonne auf einem Handrücken, und es duftet nach frisch aufgebrühtem Tee. Nahezu ein kindliches Hoffen wider besseres Wissen, so will es scheinen. In einer der einprägsamsten Szenen aus Melitta Brezniks erstem Buch, "Nachtdienst", erinnert sich die Erzählerin daran, wie sie als Kind stundenlang aufs Linoleum starrt, um in der Musterung eine Gesetzmäßigkeit zu entdecken: "Dann würde ich Glück haben, Vater würde an diesem Abend nicht betrunken nach Hause kommen, Mutter würde trotz ihres Herzleidens steinalt und ich erhielte gute Noten oder ein Fahrrad zu Ostern." An dieser Aufgabe glaubt das Kind zu verzweifeln und gibt doch nicht auf.

Titelbild

Melitta Breznik: Figuren. Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 1999.
119 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3630869939

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch