Verwirrte Familienmonologe

Ein Blick auf '68 über die Generationen hinweg

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das, was '68 war und was daraus wurde, unterliegt seit Längerem einer teilweise heftigen Auseinandersetzung. Ehemalige und Nachfahren, alte und neue Gegner streiten sich in soziologischen und historischen Sachbüchern, in Erinnerungen und Autobiografien um die Deutungshoheit.

Je tiefer man da drinsteckte, je mehr man sich mit marxistischer Rhetorik gewappnet hatte, je verkrampfter man damals war und je erklärter heute der Unterschied zu damals - desto aufgeregter die Erinnerungen. Stephan Wackwitz wurde im März 1975 im Alter von 23 Jahren Mitglied des "Marxistischen Studentenbundes" (MSB), eine aus dem "Sozialistischen Deutschen Studentenbund" (SDS) hervorgegangene, der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) nahestehende Gruppe. Seine Mal um Mal wiederholte und immer wieder variierte Diagnose, der MSB sei ein totalitärer, autoritärer Verein gewesen, dem er aus "Größenwahn" und Unsicherheit beigetreten sei, ist sicherlich richtig.

Aber als würde alles verdorben, nur weil er seine Augen darauf richtete, rechnet er nicht nur mit den Fehlern seiner Vergangenheit ab, sondern mit allem, was damit in Verbindung steht: Fichte, Schelling, "der große, verrückte Hegel", Hölderlin, Marx, alles eine "merkwürdige, schreckliche, unfreiwillig komische und absolut knalldeutsche Philosophic Gothic Novel."

Vielleicht sollte er auch bei deren Interpretation mit seiner Vergangenheit brechen - aber dann könnte er Probleme bekommen, mit der Gegenwart seinen Frieden zu schließen. Der Größenwahn von früher besteht fort. War er früher der Klassenverrat begehende, im Namen des Proletariats und der Zukunft sprechende Bürgersohn, der über das Bürgertum den Stab bricht, so handelt er heute in genau entgegengesetzter Richtung. Der großsprecherische Furor blieb. Auch die Erklärung seiner Jugendsünden kann er nur in den geschichtsphilosophischen Zusammenhang stellen, in einen generationenübergreifenden Familienroman "Neue Menschen": In seinem Fall habe sich - nach Großvater und Vater - nur die Option fürs Deutsche und Fanatische wiederholt.

Suchte er früher als Marxist, den Weltgeist aufzufinden und für seine Sache (respektive die des "Volkes") zu reiten, so ist er heute mit ihm, dem Kapitalverhältnis. Denn heute, geheilt, sei er ein "liberal", einer, der sich an modernen eleganten Cafés im ehemaligen Ostblock erfreut, "wo Menschen hinkommen, die zwar hübsch, gesund und klug und glücklich aussehen, aber nicht deswegen, weil sich die Weltgeschichte, das Selbstbewusstsein Gottes, eine Idee oder das Absolute in ihnen ausdrückt." Welche und wie viele Opfer dieses sicherlich schöne Leben nach dem Ende des Realsozialismus fordert, das braucht ihn nun nicht mehr zu interessieren.

Wackwitz empfindet Ekel, als wäre er in einer der K-Gruppen gewesen. Zu diesen zählen die "Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten" (KPD/ML), die "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD) und der "Kommunistische Bund Westdeutschlands" (KBW). Schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen sollen in den 1970er Jahren die K-Gruppen durchlaufen haben. Von den ihnen vorangegangenen linken Studenten, so kann man Andreas Kühns Untersuchung "Stalins Enkel, Maos Söhne" entnehmen, distanzierten sie sich ausdrücklich. Gegen deren unzulängliche Versuche zur Überwindung bürgerlicher Moral betonten die K-Gruppen die Pflege von Sekundärtugenden und propagierten das Ideal sauberer und ordentlicher Mädels und Jungens. Sie waren gegen sexuelle Emanzipation, gegen Popmusik (lenkt vom Klassenkampf ab), gegen die Amerikanisierung (Verleugnung kultureller Eigenheiten), gegen moderne Kunst (nicht fürs Volk), gegen Intellektuelle und Künstler überhaupt, gegen die RAF, für die klassische Rollenverteilung der Geschlechter und für autoritäre Erziehung. Politiker und Unternehmer galten als "Volksfeinde", das Parlament als "Schwatzbude". Für Verschwörungstheorien hatte man ein Faible. Sie befürworteten die Todesstrafe für Drogendealer und Umweltsünder, die Wehrertüchtigung in der Schule sowie die allgemeine Bewaffnung des Volkes und dessen Unterrichtung in Waffenkunde. Denn man wollte sich gegen die Supermächte im Westen wie im Osten behaupten und ein nicht nur wehrfähiges, sondern auch einiges deutsches Volk. Deswegen war man gegen die Berliner Mauer und die Ostverträge. Obwohl man sich selber als Kommunisten sah, konnte man, ging es gegen die Sowjetunion, auch in Antikommunismus machen. Die Gleichsetzung von Sowjetunion und Nationalsozialismus erfüllte nicht nur die Standards der Totalitarismustheorie, sondern taugte auch zur Relativierung der deutschen Verbrechen. Ausdrücklich wandte man sich gegen die Kollektivschuldthese und erklärte den exterminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus zur Nebensache. Eigentlich merkwürdig, dass sie nicht mehr Erfolg hatten.

In Kühns Studie - eine Fleißarbeit, wahrscheinlich für Diplom- oder Doktorgrad - finden sich viel Material und teilweise merkwürdige Interpretationen. Das meiste hat er Gerd Koenens Büchern nachempfunden, doch in der Denunziation - Freiraum gesinnungstüchtigen Nachwuchses - prescht er weit voran. "So mancher Akteur" der K-Gruppen habe sich in Fragen des Umgangs mit dem politischen Gegner "wie ein Einsatzgruppenleiter" aufgeführt und sich "mit einer rationalen Kälte, die den Technokraten des Reichssicherheitshauptamtes gleichkam" hierzu geäußert. Man kann bezweifeln, dass er weiß, wovon er hier spricht. Die den K-Gruppen zu Recht vorgeworfene Relativierung und Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit betreibt er hier selbst.

Nachkommen der '68er-Generation machten bislang vor allem durch Abrechnungen von sich reden. Die Tochter Ulrike M. Meinhofs wird seit Jahren hofiert, damit sie ihrer Mutter und deren Genossen Schlechtes nachsagt. Aber auch und gerade Menschen, die in keinem direkten, persönlichen Verhältnis zu Altlinken stehen, stilisieren sich als deren Opfer. Dabei dürften sie, als pars pro toto Florian Illies ("Generation Golf", 2000), einfach nur die Ressentiments der Gegner nachplappern. Nun melden sich auch '68er-Kinder zu Wort. Im Gegensatz zu Sophie Dannenberg ("Das bleiche Herz der Revolution", 2004) erzählen Richard David Precht und Katharina Wulff-Bräutigam in ihren Autobiografien tatsächlich das, was sie selbst erlebt haben.

Precht wurde 1964 geboren. Seine Eltern konnten an '68 nicht recht teilnehmen, weil sie ins biedere Solingen zogen. Trotzdem oder gerade deswegen wurden sie Ende der 1960er "überzeugte Marxisten", worin Precht zu Unrecht eine Bewegung gegen den Zeitgeist sieht. '68 war zwar vorbei, aber die Zeit der Parteiarbeit brach erst an. Vor allem der Vater akkumulierte privat die üblichen Theorien, arbeitete aber schon als Hausgeräte-Designer. Die Mutter initiierte 1969 die Adoption eines ersten vietnamesischen Waisenkindes, vermittelt über terre des hommes. Beide wurden Mitglied der DKP, waren damit pro DDR und pro Sowjetunion. Die Kinder schickte man zur "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend" (SDAJ), und zuhause hörte man Franz-Josef Degenhardt. Ihr Kind wurde ihr braves Produkt; das Konzept der SDAJ - "sie sollte die lärmende Kinderschar der linken Freigeister bändigen und auf einen nahen wohl organisierten Spielplatz geleiten" - ging auf. Die emotionale Bindung des kleinen Richard an die DDR und an die Sowjetunion war "tief und echt", genauso wie seine Abneigung gegen die um das Proletariat/Volk konkurrierenden K-Gruppen. Auch beim "Kommunistischen Bund" (KB), den immerhin selbst Georg Fülberth als "linkes Trüffelschwein" bezeichnete, gab es nur "falsche Kommunisten", die einen "Zeitgeist-Marxismus mit Sinn für Frauen, Schwule, Lesben und Alternative" pflegten. Die RAF, das waren für ihn "ein paar Dutzend bewaffnete Spinner", deren Anschläge Bilder wie aus Vietnam produzierten. "Der Baader" hingegen, "sah aus wie die Rocker, die einem auf dem Schulweg auflauerten und nach Kleingeld durchsuchten."

Eine Welt wie aus dem "TKKG"-Buch. Von der DKP hat er gelernt, dass ein Kommunist "anständig und sauber" sei. Deswegen versteht er nicht, dass Lieder von John Lennon ("Kifferkitsch") in der Schule besprochen werden, denn "wäre es ein revolutionäres Lied, würde ich es kennen. [...] Seit wann gelten ausgerechnet Lieder von Drogensüchtigen als klug und vorbildlich?"

Und so quillt es immer weiter gänzlich unbedarft und unbekümmert aus dem deutschen Kind, das nicht nur das Pech hatte, in Solingen aufzuwachsen, sondern auch noch in der bieder-bräsigen DKP, auf die man getrost Karl Kraus' Urteil über die SPD anwenden kann, sie sei "die lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub", eine "staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien." Hier pflegt man den Antiamerikanismus und erfährt nichts von Marx' Gesellschaftskritik. Das DKPistische Alltagsbewusstsein ist durchwebt vom Fetisch des Konkreten, Handfesten. In der DDR sollte "alles [...] direkter sein, ungeschminkter, ehrlicher." Nach dem Umzug von der Mietwohnung in ein Eigenheim trauert Precht den "Hinterhofsystemen [nach], wo die Häuser sich noch wärmten", ganz anders als bei den "sterile[n] Blocks und Straßen" der Eigenheime, wo es "Solidarität [...] gerade noch beim Kauf einer Siedlungsantenne" gab - über die man dann doch nur "Dallas" empfangen wollte: "Hier gehen die Deutschen in die Lehre. [...] Die schweigende Mehrheit [...] ästhetisiert ihre Lebenswelt in der Übernahme amerikanischer Lebensformen."

Wenn die Familie Precht früher auch auffiel, so hatte Katharina Wulff-Bräutigam, geboren 1965, eine wesentlich chaotischere Kindheit. In München lebte sie mit ihren Eltern in verschiedenen WGs, zunächst im politischen (die Mutter war Mitglied der KPD/ML), ab Frühjahr 1972 im künstlerischen Milieu. Nach der Abspaltung der RAF von der Linken und nachdem ein Freund bei anti-terroristischen Ermittlungen erschossen worden war, hatte ihre Mutter "keine Orientierung mehr und verspürte eine innere Leere", die sie füllte, indem sie sich Bhagwan zuwandte. 1979 ging sie nach Poona. Die Mutter folgte stets den gerade aktuellen Trends in der Szene, wurde von einem Bedürfnis nach Orientierung geleitet und unterzog sich dabei immer wieder Techniken der Selbstbearbeitung. Ich-Schwäche, Narzissmus, Egoismus und Masochismus gehen hier Hand in Hand:

Die so genannte antiautoritäre Erziehung war nur ein laisser-faire aus Bequemlichkeit. Die "Kinder so sein zu lassen, wie sie sind", war die Devise in der WG wie im Ashram, weil man so Zeit hatte, seinen eigenen Interessen nachzugehen. Weil man die Kinder nach einem - sei's Rousseau'schen, sei's religiösen - Romantizismus sich selbst überließ, mussten diese, mit ihresgleichen allein gelassen, sich den Gesetzen der Bande fügen. Was man an Kindern schätzte, nachdem man dies auf sie projiziert hatte - "sie sind ursprünglich, spontan, direkt, leben im Moment und unterdrücken ihre Gefühle nicht" - setzte sich repressiv durch, indem ganz einfach die stärksten Kinder in der Gruppe die Führung übernahmen und die schwachen unterdrückten.

Wie ihre Kinder, so ließen auch die Erwachsenen sich aufeinander los. Die Aufhebung von autoritären bürgerlichen Verkehrs- und Beziehungsformen befestigte und verschlimmerte diese. Als Übel galt das principium individuationis; das als "bürgerlich" verlästerte Individuum, das bislang Schein blieb, sollte nicht verwirklicht, sondern im Kollektiv aufgehoben und d. h. genichtet werden. Eifersucht und Privatleben waren verboten. "Intimsphäre war in einer Kommune tabu. Wer sich zurückzog und die Tür hinter sich schloss, galt als verdächtig, denn keiner sollte Geheimnisse vor den anderen haben." Unter Druck, Kontrolle und Urteil der Gruppe unterzog man sich einer strengen Selbsterziehung.

Diese Ich-Techniken unter dem Deckmantel der Emanzipation, diese Verhärtung gegen das eigene Leiden wurde auch bei den Kindern praktiziert. Indem man sie sich selbst überließ, sollten diese "lernen, selbständig zu werden und sich abzunabeln." "Selbständigkeit" war aber nur ein anderes Wort für "Härte". "Verweichlichte Kinder hatten hier nichts zu suchen. Miriam [eine Freundin] musste lernen, sich im Leben durchzusetzen - zu kämpfen." Die sich selbst Befreienden gaben so die Kälte, die sie von ihren eigenen Eltern erfahren hatten, an ihre Kinder weiter und erzogen diese nach den Anforderungen der Gesellschaft, die sie abzulehnen meinten.

Lehnte Wulff-Bräutigam die linke und künstlerische Szene auch ab, so folgte sie ihrer Mutter schließlich doch nach Poona. Im Alter von vierzehn Jahren ließ sie sich in die Bhagwan-Gemeinde einführen. Was man ihr antat, setzte sich durch. Im Ashram bewunderte sie ein Mädchen für "ihren Mut, ohne Rücksicht auf andere das zu tun, was sie wollte." Für ihre 'spirituelle Weiterentwicklung' nahm sie an einem Bodhidarma teil, dessen Prozedur darin bestand, mit vielen Menschen auf engstem Raum unter harten Arbeitsbedingungen in einer strengen Hierarchie zu leben und zu arbeiten, um 'sein Selbst zu überwinden'.

An den Altlinken wie an ihren Nachkommen fällt das hohe Maß an Kontinuität auf. Sie bleiben, bei allem Wechsel der Inhalte, bei allen neuen Bekenntnissen, ihrer Denkform treu. Manchmal mussten sie nicht einmal die Inhalte austauschen, sondern nur warten, bis diese ihre Zeit bekommen haben. Ihre Nachkommen setzen, fast erschreckend bruchlos, fort, was ihre Eltern vormachten. Der Lärm, den die '68er-Hasser immer noch entfachen, verwundert, denn würden sie zur Kenntnis nehmen, was ihre Hassobjekte dachten und sagten, dann würde der Graben eingeebnet. Aber dann ginge ihnen auch die Distinktion verloren, auf der sie ihr mageres Weltbild aufbauen. Die Altlinken sind angekommen, weil die Gesellschaft, der sie vorangestürmt waren, sie inzwischen eingeholt hat. Letzten Endes bleibt alles in der Familie.


Titelbild

Katharina Wulff-Bräutigam: Bhagwan, Che und ich. Meine Kindheit in den 70ern.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2005.
269 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 342627339X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Richard David Precht: Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution.
Claassen Verlag, Berlin 2005.
350 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3546003810

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Titelbild

Stephan Wackwitz: Neue Menschen. Bildungsroman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
270 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100910567

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Titelbild

Andreas Kühn: Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
358 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3593378655

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