Ich will heiter weitermachen

Robert Gernhardt starb nach langer schwerer Krankheit

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

"Komm, erstes Wort" - so beginnt das Auftakt-Gedicht seines Bandes "Wörtersee" (1981), des ersten Lyrikbandes, in dem sich Gernhardt quasi als "Solitär" zeigte, als Autor jenseits der "Drei" (F. W. Bernstein, Robert Gernhardt, F. K. Waechter), der Keimzelle der Neuen Frankfurter Schule:

Komm, erstes Wort,
langersehntes,
Geschenk du der Götter, die
den Dichter beschenken mit
herrlichen alten Weinen
wie dem von Castiglioncelli
und mit
herrlichen ersten Worten
wie
"Komm, erstes Wort."

Das Pathos des Musenanrufes, das kraftvolle Schöpferwort der Genesis, die Italiensehnsucht der "Dichter" und ihr libidinöses Verhältnis zur Welt und ihren Annehmlichkeiten (das Ideal der "Via Chiantigiana" und ihrer Rebsäfte), das Geschenk des Anfangs und die Gabe, den Anfang zum Ende zu führen - all dies steckt in diesem mühelos-schwebenden, fast schwerelosen Gedicht, das den Hohen Ton anschlägt, nur um in wenigen Versen den Weg in die Wonnen der Gewöhnlichkeit zu finden. Ein poetologisches Gedicht, das mit dem kulturellen Erbe arbeitet, Anspielungswissen mobilisiert, Erwartungen aufbaut, Kontexte stiftet - und sich dann leicht und elegant wieder herausschleicht aus der mächtigen Tradition.

Die Traditionsbestände zu durchmustern, das Brauchbare zu reaktivieren, Hohes und Tiefes, Ehrwürdiges und Profanes, Sakrales und Banales in ein spannungsvolles, nirgendwo banales oder profanes Verhältnis zu bringen, war Gernhardts Ziel - und "Wörtersee" war ein großer emanzipatorischer Schritt in diese Richtung. Der Schritt eines Autors, der - nicht mehr ganz jung (Jahrgang 1937) - entschlossen war, das eigene, schon recht vielfältige Werk strategisch voranzutreiben und, mangels Resonanz in der 'bürgerlichen' Presse, auch die eigene Rezeption entsprechend zu steuern und zu befeuern.

Erschienen bei Zweitausendeins, zielte der Band auf eine Leserschaft, die den vielseitigen Künstler von anderen Foren wie "pardon", "Titanic" oder "Zeitmagazin" kannte und mit seiner Zeichenkunst, seinem Bilderwitz, seiner Reimkunst vertraut war, sowie auf eine Klientel, der zumindest der virtuose Umgang mit dem Formengedächtnis der Dichtungstradition ins Auge fallen konnte und sollte. Doch die Kritik, von der er bislang kaum wahrgenommen worden war, versagte auch hier: Zu heterogen, zu fremd- und neuartig und damit wenig anschlussfähig an das Gewohnte war offenbar dieser Band. So musste sich Gernhardt gedulden - und erreichte erst mit seinem Gedichtband "Körper in Cafés" (1987) und den Nachfolgebänden die besondere Aufmerksamkeit der großen Feuilletons und mit ihnen ein neues Publikum.

Die Neue Frankfurter Schule, an deren Existenz man wohl nicht mehr vorbeikommt, auch wenn sie ursprünglich nicht als künstlerische Richtung oder Disziplin gelten konnte, sondern nur als Label für die Presse, um eine recht heterogene Gruppe komischer Zeichner und Texter, Poeten und Satiriker aus dem Umfeld der Zeitschrift "Titanic" auf den Begriff zu bringen, diese Neue Frankfurter Schule markiert heute ziemlich genau die intellektuelle Origo Gernhardts und seiner Mitstreiter - und Gernhardt war bald ihr prominentester Vertreter, obwohl er sich längst freigeschwommen hatte. Vor allem seine Lyrik, aber auch seine prosaischen Kleinformen begeisterten, und erstaunlich schnell sprang der Funke von der alternativen Szene zum eher bürgerlichen Lager über. Seine Lesungen führten ein lustorientiertes Publikum zusammen, das sich aus allen sozialen Milieus und Altersgruppen zusammensetzte. Und mit seinem kritischen Blick auf die Zunft erwarb er sich rasch den Respekt des Feuilletons und der akademischen Kritik: Seine Komiktheorie trug ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Fribourg ein, eine von zahllosen Würdigungen.

Gernhardt verstand es, blitzschnell und blitzgescheit auf die Welt, in der wir leben, zu reagieren - zumeist mit den Mitteln der Komik. Komik wurde zur Haltung, zum Habitus, zur "Lebensform", denn über die Komik ließ sich die Realität ins Gedicht holen, ohne dass es peinlich und peinsam wurde. Es dürfte kaum einen anderen Dichter geben, dessen Texte so lebensprall und zugleich formvollendet gestaltet sind, so voller Realien stecken, doch niemals den Hautgout des bloß Alltäglichen annehmen. Selbst den Herzinfarkt und seine rezidive Krebserkrankung thematisierte er virtuos und mit Witz - mit dem "Erfolg" übrigens, dass wiederum die Feuilletons schwiegen: Zu unheimlich erschien ihnen vielleicht dieser genaue Blick auf den eigenen Verfall.

Fragte man ihn zuletzt, wie es um ihn stünde, so antwortete er zumeist: "Die gefühlte Gesundheit ist gut." Einen Gedichtband und einen Band mit 24 Erzählungen konnte er noch abschließen, bevor er sich der Krankheit ergeben musste: "Ich will heiter weitermachen", sagte er, als es zunehmend schlechter um ihn stand und zuende ging. Letzte Worte, wer hätte passendere finden können.