Die geheimen Sehnsüchte des Leo Böwe

Judith Kuckart begibt sich in ihrem Roman "Kaiserstraße" auf einen Streifzug durch die deutsche Geschichte der letzten 50 Jahre

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den Männern zu gehören, die in den 1950er Jahren Kunden "der Nitribitt" waren, davon konnte Leo Böwe nur träumen. Er, der 1935 geboren wurde, der als Achtjähriger nach einem Bombenangriff toten Soldaten die Schuhe auszog, gehörte zu den Kleinen dieser Welt, für die Rosemarie Nitribitt, Deutschlands berühmteste Prostituierte Mitte des 20. Jahrhunderts, schlichtweg alle Männerwünsche verkörperte. Der Mord an ihr, 1957 in der Frankfurter Kaiserstraße, wurde nie aufgeklärt, er gehört zu den gut gehüteten Geheimnissen Deutschlands, denen Judith Kuckart in ihrem neusten Roman nachspürt.

Leo Böwe beginnt seine Berufskarriere als Elektromaschinen-Verkäufer, eine Arbeit, die ihm gleichzeitig den Weg zu Frauen öffnete und ihn mit Männern, mit seinesgleichen, zusammenbrachte. Böwes Leben ist so langweilig wie voraussehbar. In Liz findet er eine Frau, die zu ihm passt, was heißt, sie ist ebenso gewöhnlich wie er auch. Die Tochter, Jule - die zweite Hauptfigur des Romans -, durchläuft Stationen einer trostlosen Existenz: Schule, Arbeit in der Parfümerie-Abteilung eines Kaufhauses, schwanger mit sechzehn, Geburt, Adoption. Doch dann nimmt Jule, und da unterscheidet sie sich von ihren Eltern, ihr Leben in die Hand und löst sich aus dieser Umgebung, in der jede Initiative erstickt wird, um ihren eigenen Weg zu suchen - und ihn schließlich auch zu finden.

Leo jedoch bleibt in der Trostlosigkeit gefangen. Seine Ausbruchsversuche spielen sich in klassischer männlicher Form ab, sprich: Er hat eine Geliebte nach der anderen, selbstverständlich ohne dass Liz davon etwas erfahren darf. Dass er mit Rosemarie - nicht Nitribitt, aber immerhin Rosemarie - eine Art zweiter Ehe führt, lässt ihn zwar einmal aufhorchen, ändern aber will er es nicht. Denn eigentlich ist es doch ganz angenehm, dass die beiden Haushalte sich kaum unterscheiden - bis hin zum Service, das Böwe von zu Hause mitlaufen ließ und Liz umgehend mit dem Geld der Diebstahlversicherung ersetzte; sie war sehr stolz, dass sie das genau gleiche wieder gefunden hatte.

Von Liz trennen würde sich Böwe nie, er liebt sie auf seine Art immer noch. Als Liz ihn verlässt, bedeutet dies für ihn nicht, nun grundsätzlich an seiner Lebensform etwas zu ändern. Denn eigentlich hat er schon mehr erreicht als er sich je hätte träumen lassen. Auf der Karrierenleiter ist er ein paar Stufen nach oben gestiegen und amtiert als Provinzpolitiker (für die Konservativen selbstverständlich) - doch am Schluss findet er sich als Spanien-Pilger und kleiner Schriftsteller wieder, der nach seiner Sprache, seinem Leben sucht.

Anders als ihr Vater übernimmt Jule Verantwortung für sich. Sie beginnt eine Tänzerinnenkarriere, die sie jedoch abbricht, um danach im Management erfolgreich zu sein. Wenn ihre Mutter sie in Berlin besucht, ist sie erstaunt über den Reichtum, der ihrer Tochter zur Verfügung steht. Sie zumindest hat es zu etwas gebracht. Aber auch Liz hat sich verändert und ist nicht länger die unterwürfige Ehefrau, als die sie Böwe ausgewählt hat. Sie eröffnet am 9. November 1989 mit einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die sie beim Friseur kennen gelernt hat, eine Boutique für Trauerbekleidung am Stadtrand. Ein Ausbruchsversuch, der ihr hilft, sich nicht mit Leo und seinem Leben ohne sie auseinander zu setzen.

"Kaiserstraße" ist als Jahrhundertroman angelegt, der in fünf Kapiteln die großen, zukunftsprägenden Ereignisse von fünf Jahrzehnten berührt: 1957, 1967, 1977, 1989, 1999. Doch eigentlich lebt die Geschichte von den Details, die gezeichnet werden. Es sind die kleinen Hinweise, die eine Zeit wieder aufleben lassen, der Toast Hawaii etwa, das Café Capri, die Frisur wie Soraya. Damit sind oft mehr Geschichten verbunden als mit Hinweisen auf Vietnam, Brandt und Kissinger oder auf die Artikel einer jungen Journalistin namens Ulrike Meinhof. Die Mischung ist faszinierend. Auch wenn nicht mehr alle Ereignisse präsent sind, lassen die Andeutungen vieles wieder aufleben, was im 20. Jahrhundert von besonderer Bedeutung war.


Titelbild

Judith Kuckart: Kaiserstraße.
DuMont Buchverlag, Köln 2006.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832179569

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch