Sich eine Welt erschließen
Erzählungen von Oh Jung-Hee
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseOh Jung-Hee erklärt wenig - und damit viel. Die Erzählungen der 1947 geborenen südkoreanischen Autorin beginnen meist völlig unvermittelt: Irgendwelche Personen treten auf, an irgendeinem Ort, fast stets zu einer zunächst unbestimmten Zeit, die historisch einzuordnen erst nach mehreren Seiten und nur dem aufmerksamen Leser gelingt. Schon gar nicht erfährt man, in welchem Verhältnis die Personen zueinander stehen. Stattdessen: was sie sehen, hören, riechen, tasten. Und: scheinbar nebensächliche Handlungen, die keinerlei Folgen haben, doch sofort prägnant charakterisieren.
Die Orientierung stellt sich später ein. Nach ein paar Seiten ahnt man Zusammenhänge, und bald bewegt man sich sicher in einer literarischen Welt, die nicht zuletzt deshalb anschaulich ist, weil man sie sich selbst erschlossen hat. Weil diese Welt sich über die Wahrnehmungen der Personen herstellt, erschließt sich auch das Innenleben dieser Menschen, so fremd sie dem westeuropäischen Leser zunächst scheinen. Es handelt sich um eine literarische Technik der Identifikation, die kaum etwas mit psychologischer Einfühlung und nichts mit einer traditionellen Erzeugung von Spannung zu tun hat.
Unter dem Titel "Der Gedenkstein" liegen nun drei weitere Erzählungen der Autorin vor, in der Übersetzung von Edeltrud Kim und Kim Sun-Hee, die sich schon um die preisgekrönte Übertragung von Oh Jung-Hees Roman "Vögel" verdient gemacht haben; weitere Erzählungen sind unter den Titeln "Die Seele des Windes" und "Der Hof meiner Kindheit" auf Deutsch in Sammelbänden zusammengefasst. Die neu übertragenen Werke zeigen die Charakteristik wie die Qualität der Prosa Oh Jung-Hees in exemplarischer Weise. Gleichzeitig lässt sich verfolgen, wie von der frühesten und längsten Erzählung "Der Gedenkstein" (1983) über "Feuerwerk" (1986) bis zu "Der alte Brunnen" (1994) sich eine persönliche Gestaltungsweise immer schärfer ausprägt.
Im "Gedenkstein" haben Handlung und politische Zusammenhänge die noch größte Bedeutung. Die Geschichte spielt sich um 1945 ab; das Ende des Zweiten Weltkriegs, damit die Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft und der Beginn der koreanischen Teilung bilden den Rahmen. Im Zentrum steht eine relativ wohlhabende Familie, die im Norden Koreas lebt und damit konfrontiert ist, dass statt der erhofften Freiheit sich eine kommunistische Herrschaft etabliert. Immer enger wird der Spielraum, immer näher rücken Enteignungen und Schlimmeres, bis sich am Ende die Familie zur Flucht in den Süden entschließt.
Ein gesellschaftliches Panorama entsteht dennoch nicht. Oh Jung-Hee sucht nicht nach historischen Erklärungen - sie müsste sonst viel früher ansetzen, denn der Hass vieler armer Koreaner auf die Wohlhabenden wurde nicht erst 1945 von einmarschierenden Sowjets importiert, sondern geht auf das Verhalten der Reichen zurück, die zuvor vielfach mit den kolonialen Unterdrückern kollaborierten. Die partielle politische Blindheit ist begründet durch die Perspektive, auf die es Oh ankommt und die einen reichen menschlichen Erfahrungsraum eröffnet. Wie häufig in südkoreanischer Literatur wählt sie die Perspektive eines Kindes, hier die des jungen Hyondo, der sich allmählich in seiner Umwelt zurechtfinden muss. Seine Geschichte ist eine Geschichte des Lernens, des Lernens durch Fehler auch. Wie soll er umgehen mit dem japanischen Schulfreund, der nur zuerst zu den Oberen gehört, dann zu den Verfehmten, dessen Mutter dann bettelnd durch die Straßen zieht, weil es für die Verlierer des Kriegs keine Zuteilung von Nahrungsmitteln gibt? Was ist mit dem Onkel, der sich als opiumsüchtig entpuppt und der so seltsame Wunden hat, die eitern und nie heilen wollen, weil er arbeitsdienstverpflichtet in Japan in den Wirkungskreis einer ganz neuartigen amerikanischen Bombe geriet? Wie ist der Tod zu bewältigen, der ins Gesichtsfeld Hyondos tritt, als der Großvater stirbt, auf dessen Arbeit der Reichtum der Familie zurückgeht? Und warum nennen die Eltern kurz vor dem Tag des Aufbruchs einer Verwandten ein falsches Fluchtdatum, um ohne sie aufs rettende Schiff zu kommen?
Im Leben Hyondos geht es stets um genaue Beobachtung und um eine differenzierte moralische Bildung: um kein vorgefertigtes Urteil, sondern um Verständnis für die Widersprüche zwischen Wünschen und Notwendigkeiten, in denen sich die Figuren bewegen; auch um die Wahrnehmung und Akzeptanz von Scham, der Scham der Anderen wie der eigenen. Der Gedenkstein, der dem Werk den Titel gibt, trägt denn auch eine Inschrift, die unleserlich geworden ist; und die Überlieferung, woran er eigentlich erinnern soll, ist unsicher. Viel eher als feststehende Lehre ist er Zentrum sozialen Lebens und damit immer neuer Problembewältigung.
Orientiert sich Hyondo in der Welt und mag man sich vorstellen, dass hier die Erfahrungsgrundlage einer umfassenden Existenz entsteht, so sind die beiden späteren Erzählungen weit mehr auf Erinnerung, auf Brüche bezogen. Die Wahrnehmung der Personen ist so reich wie die des Kindes, doch viel mehr von einer Retrospektive geprägt. In "Feuerwerk" ist die Erlebensstruktur einer Familie multiperspektivisch veranschaulicht. Ist die Sicht des zwölfjährigen Sohnes noch der Hyondos vergleichbar, insofern er die Welt zu verstehen sucht, so kämpft seine Mutter als Hühnerzüchterin, deren Tiere sterben und deren Hahn seine Hennen tötet, nur noch gegen den Zerfall. Der Vater schließlich ist ganz geprägt von der kriegerischen historischen Vergangenheit, die ihn auch niemals ein enges Verhältnis zu den eigenen Eltern hat gewinnen lassen. So wird die Kleinfamilie zum Sinnbild der Einsamkeit und leben drei Menschen, nicht einmal durch Feindschaft verbunden, nebeneinander her. Einen Neuanfang markiert nicht das Feuerwerk, das der Erzählung den Titel gibt und anlässlich der Umbenennung der Kleinstadt, in der die Familie wohnt, abbrennt - die offiziellen Feierlichkeiten wirken sinnlos und leer. Eher schon bietet die fast rituelle Schlachtung des Hahns am Ende die Sicht auf einen Ausbruch. Doch die Notwendigkeiten von Arbeit und Überlieferung verlangen ihr Recht: "Nun blieb ihr nichts, als alles nach der grausamen Ordnung in Fleisch, Knochen oder wertloses, gelblich rinnendes Fett zu zerlegen."
Hier gibt es wenigstens noch eine Familie, in der drei Personen sinnhaft Wahrnehmungen beitragen können. Treffen sie auch kaum je aufeinander, so haben doch alle drei erfüllte Bereiche des eigenen Lebens. Auch die Ich-Erzählerin in "Der alte Brunnen" hat Mann und Sohn, doch findet sich nichts mehr an Verständigung. Ihr Erleben ist auf die Vergangenheit gerichtet: auf die Erinnerung an die Kindheit, an die Mutter, vor allem aber an einen Geliebten. Dieser "er", über den man wenig erfährt, außer dass er gestorben ist, beherrscht ihr Leben als Zeichen der Vergänglich- und Vergeblichkeit. Als 45-jährige Frau, nach äußeren Maßstäben materiell erfolgreich und familiär abgesichert, sieht die Erzählerin die Jahrzehnte, die noch vor ihr liegen, als Absterben und Verfall.
Oh Jung-Hees Kunst der konzentrierten Darstellung sorgt dafür, dass die Erzählung weit mehr als die trübe Darstellung eines trüben Lebens ist. Paradox genug geht mit der inneren Leere ein reiches Empfinden einher. Auch hier wieder beeindruckt die Fülle der Wahrnehmungen, die indessen noch weniger als in den früheren Erzählungen einem Handlungszusammenhang zugeordnet sind.
Allerdings scheint es, als sei Oh ein wenig vor der Konsequenz der eigenen Entwicklung zurückgeschreckt. "Der Gedenkstein" endete mit dem spannungsvollen Verhältnis zwischen der Zukunftserwartung im rettenden Süden und der verratenen, zurückgelassenen Verwandtschaft. In "Feuerwerk" steht die ambivalente Schlachtung am Ende. "Der alte Brunnen" aber endet mit einem Naturerlebnis, das dem Vergänglichen entgegen etwas wie Dauerhaftigkeit und einen Sinn suggeriert, der die einzelne Existenz überschreiten soll. Dieser scheinbare Trost markiert eine Schwäche, die das Werk beschädigt.
Die Erzählungen sind in ansprechendes Deutsch übertragen und von den Übersetzerinnen mit hilfreichen und zuverlässigen Erläuterungen sowie einem instruktiven Nachwort versehen worden.