Schandflecke der Musikgeschichte

Jim Derogatis und Carmél Carrillo über Musik, die man hassen darf

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der "Hall of Shame" von Jim Derogatis und Carmél Carrillo hält man angeblich ein Werk in den Händen, das einen über die "größten Irrtümer in der Geschichte des Rock'n' Roll" aufklärt. Nun, es ist nicht ganz so, wie der Titel verspricht. Und vielleicht sind es auch nicht die größten Irrtümer, die hier an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden.

Derogatis und Carrillo haben ungefähr dreißig Kollegen um Textbeiträge gebeten. In den Beiträgen sollten die furchtbarsten und grauenhaftesten Alben nicht nur kommentiert, sondern vor allem demontiert werden. Aufgabenstellung war es, einen Anti-Kanon zu entwerfen - natürlich ganz an den persönlichen Abneigungen ausgerichtet. Die Auswahl lässt sich denn auch nicht lumpen und wartet mit einigen hochkarätigen Namen und Alben auf, die zu den Klassikern der Musikgeschichte, will sagen: der Geschichte der Rock- und Popmusik gehören.

Über die Intention des Buchs klärt Derogatis den Leser in den einleitenden Vorbemerkungen auf: "'Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock'n' Roll', eine Sammlung von zweiunddreißig Aufsätzen, in denen je ein Autor ein angeblich 'großes' Album bespricht, das er oder sie verachtet. Wenn wir uns aufspielen wollten, könnten wir es einen temperamentvollen Angriff auf ein Pantheon nennen, das man uns untergejubelt hat, oder auch die kämpferische Ablehnung einer hegemonischen Sicht der Rockgeschichte, die Kritiker vor uns vertreten haben. Umgangssprachlich hieße das, es ist ein lautes, wütendes, aber hoffentlich unterhaltsames 'Fuck you'." Zu Grunde liegt die etwas abgegriffene Idee, dass ein unterhaltsamer Verriss eines Buchs oder in diesem Fall eines Werks der Popmusikgeschichte für den Leser oft nutzbringender und erfreulicher ist als eine langweilige Lobpreisung. Und wenn man sich das Buch zur Hand nimmt und das Inhaltsverzeichnis durchgeht, stößt man schon auf einige Kandidaten, die man gerne in den Schmutz getreten sehen möchte. Und so macht sich der neugierige Leser dann an die ersten Verrisse von Probanden und ihrer Musik, die er schon immer von der Allgemeinheit überschätzt gefunden hat: Von den Beach Boys "Pet Sounds", Bob Dylans "Blood on the Tracks", Bruce Springsteens "Born in the U.S.A." oder Neil Youngs "Harvest". Diese kleinen Aufsätze liest man sich durch, ist mal mehr, mal weniger amüsiert - was vor allem an der gelegentlich sehr unentschlossenen Haltung dem Besprechungsgegenstand gegenüber liegt - und ertappt sich dennoch beim Schmunzeln angesichts mancher 'Hinrichtungen'.

Was aber auf den ersten Blick positiv zu sein scheint, nämlich die verschiedenen Perspektiven der Autoren, langweilt über die ganze Länge des Buchs. Man hat den Eindruck von wiederholten Geschichten. Das hat man an anderer Stelle bei Sky Nonhoff schon cooler und vor allem in größerer Konsistenz gesehen (vgl. literaturkritik 12/2005). Und sogar die Listen von Nick Hornby sind letztendlich spannender, weil mit einem Konzept versehen, das den Leser bis an das Ende des Buchs begleitet. Der Band von Derogatis und Carrillo hat eher den Charakter eines Lesebuchs. Nur wenige Texte sind so stark, dass man eine Lektüreempfehlung aussprechen möchte. Zu diesen Texten gehört die "Kritik" eines fiktiven Albums mit dem Titel "My Greatest Exes" von der Co-Herausgeberin Carmél Carrillo - oder soll man besser sagen: die Kritik des von ihr selbst zusammengestellten Mix-Tape? Nachdem die Sex Pistols geschlachtet wurden und eine peinliche Bruce-Springsteen-Verspottung beendet wurde, kommt "My Greatest Exes" sehr entspannt daher und kulminiert schon zu Beginn in der Frage: "Warum nimmt eigentlich nie jemand Trennungskassetten auf?" - Nun, wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem es auch relativ wenig Scheidungpartys gibt. Aber Carrillo schafft es, belanglose Marginalien in die Nähe von Literatur zu manövrieren, wenn sie, bei der Aufzählung ihrer Ex-Liebhaber, deren Lieder zu töten und zugleich ihre Sympathien für diese verflossenen Amouren aufzufinden versucht: "Er behandelte mich eben wie eine Prinzessin, und ich verliebte mich Hals über Kopf in ihn." Oder: "Er verführte mich mit seinem Südstaaten-Akzent und erzählte mir Geschichten über seine Kindheit im Süden". Und der Schluss, der nicht nur auf eine Beziehung passen könnte, trifft auch für das Verhältnis zu einem Musikstück oder einem Buch zu: "'Meld dich mal', murmelte Bud. Wäre das nicht nett? Wohl kaum." (327) Nicht zuletzt ihre Vorliebe für Al Green macht Mademoiselle Carmél sehr unterhaltsam.

Ganz nett sind sie schon zu lesen, diese "Kritiken" in der Übersetzung von Götz Bühler. Vor allem über die Musiker, die einem am Herzen liegen. Denn es sind größtenteils keine willkürlichen Beweggründe, die die Autoren veranlassen, ein bestimmtes Album, ein bestimmtes Lied oder einen Musiker zu demontieren. Und wenn man am Ende des Bandes die Kurzbiografien der Autoren liest, die jeweils eine Top-Ten-Liste ihrer Lieblingsalben beigeben, dann weiß man, dass das mit der vernichtenden Kritik alles nicht wirklich so gemeint war - überschneiden sich die Lieblingsalben der Autoren doch mit einem ganzen Teil der im vorderen Abschnitt des Buchs verrissenen Alben und Musiker. Nur: Warum sollten wir es dann überhaupt lesen? Ach ja, zur Unterhaltung. Aber da sei dann doch eher Nonhoffs "Don't Believe the Hype!" empfohlen.


Titelbild

Jim Derogatis / Carmel Carrillo (Hg.): Hall of Shame. Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock´n Roll.
Übersetzt aus dem Englischen von Götz Bühler.
Rogner & Bernhard Verlag, Berlin 2006.
410 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3807710132

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