Alte Bekannte
Im Roman des Isländers Hallgrímur Helgason erwacht ein Schriftsteller nach seinem Tod in seinem eigenen Werk
Von Anne K. Betz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas hätte sich Einar J. Grímson nicht träumen lassen: Da sitzt er mitten in der isländischen Heide, fernab von jeglicher Zivilisation und jedem vertrauten Gesicht und hat keinen blassen Schimmer, wie er dorthin gekommen ist. Eben war er doch noch im Altenheim! Nicht einmal Socken hat er an - zwar einen dreiteiligen Anzug, aber keine Socken! Und seinen Namen, den hat er auch vergessen. Bewegungs- und orientierungslos, wie er ist, ist er auf die Hilfe des Schafbauern Hrólfur und seiner Familie angewiesen. Seltsamerweise aber kommt ihm alles, was sich in dieser Familie abspielt, und auch die Menschen, die ihm auf und um den Hof herum begegnen, vage bekannt vor. Zum Beispiel erscheint ihm Hrólfur wie der isländische Bauer schlechthin, und die Alte, "das Mensch" genannt, weist Züge seiner eigenen Großmutter auf. Und dann noch der sprichwörtliche Name des Ortes, an den es ihn verschlagen hat: Heljardalur - Höllental. Grimson mag vergessen haben, wer er ist, aber nicht, was er ist: Einer der berühmtesten Schriftsteller Islands, auf Platz 82 der hundertköpfigen Liste der bedeutendsten Schriftsteller Europas! Und dieser Ort, der kommt ihm sprichwörtlich spanisch vor: Wie der aus einem Roman, an dem er in den späten 50ern in Spanien herumschrieb. Langsam dämmert es ihm, dass dieser Gedanke wohl mehr der Wahrheit entspricht, als ihm lieb ist: Er ist dazu verdammt, die Ewigkeit anstatt mit seinen Lieben mit denen zu verbringen, die ihm zeit seines Lebens am nächsten standen: mit seinen Romanfiguren.
Der Künstler, Comiczeichner und Theaterautor Hallgrímur Helgason ist auf der weiten Flur der internationalen Literatur selbst kein unbeschriebenes Blatt mehr: Sein Vorgängerroman "101 Reykjavik" mit seinem vor Computern, Videos und Theken abhängenden Antihelden Björn hatte internationalen Erfolg und wurde sogar verfilmt. Mit "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein" kehrt Helgason jedoch wieder in weniger großstädtische Gefilde zurück und besinnt sich auf sein isländisches Erbe: Der Roman, mit dem er in Island die beiden wichtigsten Buchpreise gewann, ist eine reich reflektierte und pointierte Auseinandersetzung mit dem 20. Jahrhundert und seiner Literatur - der isländischen Literatur. Alles in diesem Werk dreht sich, neben Island selbst, um das geschriebene Wort, um Inspirationserlebnisse und künstlerisches Schaffen im ewigen Kampf mit der eigenen Wirklichkeit und der Kritik - für Grimson personifiziert in seiner ewigen Nemesis, dem Literaturkritiker FridÞjófur. So kann man das ganze Buch als eine einzige Anspielung auf Islands literarische Landschaft lesen, zum Beispiel haben es viele als Schlüsselroman über Islands Nobelpreisträger Laxness gelesen. Auch sonst wimmelt es im Text nur so von Anspielungen, die wohl nur ein Isländer verstehen kann, sodass in der deutschen Ausgabe dem Werk ein kleiner Apparat mit Anmerkungen angegliedert wurde.
Diese Konzentration auf den Beruf des Schriftstellers und Grimsons Verweben von für ihn realen Personen mit fiktiven Figuren ist die größte Stärke des Romans - und gleichzeitig seine größte Schwäche. Mit größter Genauigkeit und Liebe zum Detail wird nicht nur der Kosmos der Bauernfamilie, allen voran der des Bauern Hrólfur und seiner Tochter Eivís, aufgebaut, sondern man erhält durch die vielen Gedankenschlenker Grimsons anlässlich des einen oder anderen Ereignisses auch ein Porträt des Schriftstellers selbst. So ist die Erzählung vielsträngig und vielschichtig, alles überlagert sich gegenseitig, und Rückblicke erhellen das Geschehene erst spät, das zu Beginn grobe Netz der Handlung wird erst nach und nach fertiggewebt. So scheint der Leser genauso viel Geduld zu brauchen wie Grimson selbst, mit seinem nur stückchenweise wiederkehrenden Gedächtnis. Auch ist Helgasons Ausdrucksweise zum Teil so kunstvoll, dass jeder einzelne Satz eine kleine Weisheit auszudrücken scheint, über die man erst einmal nachdenken möchte, bevor man weiterliest. Auch das beschleunigt den Lesefluss nicht unbedingt. Für "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein" braucht man Zeit. Wie zum Beispiel die langen, isländischen Winter. Näher als durch diesen Roman vermag man dem Island der Isländer wohl nur schwerlich zu kommen.
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