"Tod dem Tod"

Brecht and the Fear of Death

Von Carl PietzckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carl Pietzcker

Todesangst - von ihr lässt sich in den Bildern, die Brecht von sich selbst inszenierte, nichts entdecken, ja in seinem ganzen Werk nicht. So scheint es zunächst. Angesichts der Lust, aufklärend-denkend auf Wirklichkeit zuzugehen, wie Werk und Selbstbilder sie vermitteln, entspricht Todesangst keineswegs unseren Erwartungen und schon gar nicht unserem Bedürfnis, Brecht als einen allein der Vernunft verpflichteten Heros zu verehren. Aber dennoch: Brecht hatte von 1913, vielleicht sogar 1912, bis zu seinem letzten Tag mit Todesangst zu kämpfen. Welches aber war der Ort, wo diese Angst sich zeigte, die wir doch nirgends bemerken? Sie werden lachen, das Herz; doch Orte der Angst waren, wenn freilich verdeckt, auch sein Werk und sein Verhalten im Alltag. Angst war Motor seiner Kreativität - gewiss nicht der einzige, aber doch ein wesentlicher. Um das zu klären, muss ich zurückkommen auf einiges, was ich vor beinahe zwanzig Jahren in "'Ich kommandiere mein Herz'. Brechts Herzneurose - ein Schlüssel zu seinem Leben und Schreiben" ausgeführt habe.

Dort war ich ausgegangen von einem Bericht Paula Banholzers, die sich erinnert, wie Brecht sie 1919 besuchte: "Er legte sich ins Nebenzimmer und schlief Wand an Wand mit mir.....Plötzlich hörte ich Brecht deutlich und erschreckend stöhnen.... Brecht lag mit schweren Herzkrämpfen in seinem Bett und war schweißgebadet.... Brecht beruhigte sich allmählich.... er gestand mir dann, dass er diese Anfälle öfter habe.... Brecht gestand mir auch, dass er Angst hätte."

Es war die Angst, sein Herz bleibe stehen, also Todesangst. Diese Anfälle lassen sich zurückverfolgen bis 1912/ 13, wo sie wohl einsetzten. Seinen letzten Anfall erlitt er am Tag seines Todes. 1913 vermerkt er im Tagebuch "In der Nacht hatte ich zuerst entsetzlich Herzklopfen, dann wurde der Schlag ganz leis und schnell.... Ich hatte Angst. Eine schreckliche Angst. Die Nacht war endlos!" Immer wieder registriert er dort ängstlich das Befinden seines Herzens, mehrfach erwähnt er seine Angst. So sehr er solche Todesangst später auch zu verbergen suchte, der aufmerksam gewordene Blick wird sie nahezu überall entdecken. Selbst, wer dies nicht glauben mag, wird vielleicht stutzen, wenn er zu Brechts Testamenten bei seinem Biografen Werner Mittenzwei liest: "So hatte er verfügt, dass ihm die Ärzte die Herzschlagader öffneten, denn er ängstigte sich zeitlebens, er könne scheintot begraben werden. Der Eingriff wurde am 15. August mittags vorgenommen, bevor man den Sarg schloß. Weiterhin wollte er in einem Stahlsarg begraben werden."

Die Angst, scheintot begraben zu werden und dann dort unten hilflos zu erwachen, und die andere, ohne schützenden Stahlsarg von Würmern zerfressen zu werden, hier begegnen zwei Äußerungen von Todesangst.

Wie gehen wir hiermit um? Nutzen wir es, um Brecht und womöglich sein Werk als pathologisch abzuwerten oder zumindest deren Irrationalität zu betonen? Nutzen wir es als Erkenntnismittel oder schieben wir es beiseite als belanglos für sein Denken und Schreiben? Werner Mittenzwei jedenfalls meinte, Brecht verteidigen zu müssen: "Aus solchen (testamentarischen) Details zu schließen, daß es in Brechts Denken eine verborgene Schicht gegeben habe, in der das Wunderbare, das Abseitige und Geheimnisvolle nisteten, wäre ganz verfehlt. Bei Menschen, die ihr ganzes Leben unter eine große Aufgabe gestellt haben, bleibt meist ein Rest, der nicht in Übereinstimmung zu bringen ist mit den Denkgewohnheiten, die sie ein Leben lang verfolgen. Brecht selbst wusste darum, daß nicht alles in einem Menschen auf einen Nenner zu bringen ist, daß Abseitiges bleibt, ohne daß es das Wesen in Frage stellt."

Das ist liebenswert, aber auch eines von vielen Beispiele dafür, dass Literaturwissenschaftler ihren Autor und mit ihm ihr Selbstverständnis vor Fakten zu retten suchen, die sie als bedrohlich empfinden. Sie errichten einen Popanz - hier die gegnerische Meinung, in Brechts Denken niste "das Abseitige und Geheimnisvolle" -,verlassen den Pfad der Wissenschaft und kommen, falls Redlichkeit ihnen schlichtes Verleugnen verbietet, zu Antworten, die auf Fragen nach Zusammenhängen verzichten. Sie isolieren dann Einzelnes, in diesem Fall einerseits "Abseitiges" und andererseits ein "Wesen", das von 'Abseitigem' frei sei. Zur Erkenntnis trägt das nichts bei.

Ich selbst bin damals einen anderen Weg gegangen. Ich spürte aus psychoanalytischer Perspektive den Zusammenhängen nach, die ich zwischen jenen Ängsten und den ihnen zu Grunde liegenden Phantasien einerseits und den im Werk gestalteten Phantasien andererseits vermutete. Ängste, so erklärt die Psychoanalyse, suchen wir durch Phantasien zu symbolisieren und so auch zu bannen. Andererseits können Phantasien aber auch Ängste auslösen sowie Verhaltens- und Handlungsweisen bestimmen, z. B. das Schreiben. Auch werden sie zu Szenen verarbeitet, welche dann Texte vorführen, zu deren 'Inhalt' also. Von hier aus suchte ich die Struktur brechtschen Phantasierens zu begreifen. Ich fand deutliche Entsprechungen zwischen Brechts Verhaltensweisen, den von ihm bearbeiteten Phantasien sowie wesentlichen Strukturmomenten ihrer literarischen Gestaltung einerseits und andererseits dem allgemein an der Herzneurose Erforschten. So sah ich hier einen erfolgversprechenden Zugang; die Herzneurose ist psychoanalytisch ja relativ gut erschlossen. Es ging mir nicht darum, den Autor, seine bewussten Verfahren oder gar sein Werk zu pathologisieren, sondern darum, über eine gut beschriebene Psychopathologie Antriebe, Szenarien, Bilder und Strukturen seines Werks in ihrem Zusammenhang zu begreifen. Heute möchte ich das damals Erkannte nutzen, um zu zeigen, dass Todesangst ein wesentlicher Motor der brechtschen Kreativität war und dass der Tod in seinem Werk nahezu ständig präsent ist.

Die Herzneurose ist eine Angstneurose. Diffuse unbewusste Angst vor Selbstverlust, eine Todesangst, wird auf das beschleunigt schlagende Herz verschoben. Mit diesem Symptom tritt sie als die konkrete Angst ins Bewusstsein, das Herz bleibe stehen, also abermals als eine Todesangst. Nun kann die psychisch erzeugte Angst auf eine physische Störung bezogen, also verdinglicht werden. Ausgelöst wird jene diffuse panische Angst in einem Szenarium sehr früher unbewusster Phantasien, das beim Angstneurotiker aktiviert wird, sobald äußere oder innere Anlässe an es erinnern. Es ist ein Szenarium von Selbst- und Objektbildern, die noch nicht deutlich voneinander abgegrenzt und noch nicht zuverlässig in sich gefestigt sind. Mit ihm kehren, wie die Klinik gezeigt hat, Verarbeitungen früher Mutter-Kind-Interaktionen wieder. In diesem Szenarium geht es um Autonomie und Vereinigung, Sehnsucht nach Verschmelzung einerseits und Sehnsucht nach Selbständigkeit andererseits. Da die Selbstbilder hier noch nicht sicher abgegrenzt sind und von den Objektbildern noch so abhängen wie einst der Säugling von der Mutter, kommt es während der Annäherung an Objektbilder zu unbewussten Ängsten, sich in der Verschmelzung aufzulösen, verschlungen, zurückgewiesen oder verlassen zu werden. Andererseits kommt es während des Versuchs Selbständigkeit zu gewinnen, zur Angst, gerade deshalb verlassen zu werden und in Einsamkeit zu erstarren.

So gerät der Angstneurotiker, sobald er zur Gegenposition ausweicht, in die nächste Todesangst. Ein Kreislauf angesichts ambivalenter Objektbilder. Deshalb suchen Angstneurotiker alles zu meiden, was sie in diesen Teufelskreis ziehen könnte. Und sie suchen äußere Objekte, die ihnen Sicherheit gewähren; denn es fehlen ihnen verinnerlichte Objektbezüge, die dies leisten könnten. Zumindest gilt das auf der Stufe jener frühen Szenarien, auf die sie sich zurückziehen lassen. Stets aber ist ihnen, wie schwach dosiert auch immer, die Todesangst als Angst vor der Angst gegenwärtig, nicht unmittelbar als panische Angst vor dem Tod also, sondern als ängstliches Horchen, ob eine Situation ein Angstsignal auslöst, dem dann ein Angstausbruch folgen könnte. So schreibt der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ("Die Chance des Gewissens", Gießen 2002) mit gutem Grund: "Das Kernthema der Herzneurotiker ist Leiden und Tod". Das gilt auch für Brecht.

Er zeigt eine deutliche Nähe zu dem, was die Herzneuroseforschung als Typ B beschreibt. Anders als der Typ A, der passiv bleibt und offen von Ängsten überflutet wird, erträgt der Typ B die demütigende Situation ohnmächtiger Abhängigkeit von dem frühen Objekt, einem frühen Mutterbild, nicht, schämt sich ihrer und reagiert kontraphobisch, also mit einer Flucht nach vorne gegen die Angst. Er verleugnet Angst und Ohnmacht und kompensiert sie durch aktive und leistungsbewusste Selbständigkeit, setzt auf Willen und Intellekt. Passivität, in der ihn der Anfall überfallen könnte, meidet er: "Wegen meiner Herzkrämpfe sagt der Doktor, ich muß ins Bett. Ich gehe nicht ins Bett. Dort wird man krank. Ich sitze am Schreibtisch, morgens, mittags, abends...", schreibt Brecht 1916 ins Tagebuch. Im Versuch, seine Autonomie zu behaupten, will Brecht seine Krankheit sogar selbst herbeigeführt haben. "In der Gymnasiumszeit hatte ich mir durch allerlei Sport einen Herzschock geholt, der mich mit den Geheimnissen der Metaphysik bekannt machte." So überspielt er 1922 in verkrampftem Scherz sein Entsetzen. 1923 rühmt er sich "Von Jugend an kühn (in meinem dreizehnten Lebensjahr erzielte ich durch Verwegenheit einen nachweisbaren Herzschock)". Hier wirkt er der ohnmächtigen Angst vor dem Tod mit dem Bewusstsein seiner Macht entgegen, dem Bewusstsein, Herr über seinen Körper zu sein. Noch 1956 wird in einem seiner letzten Gedichte das Verschwinden der Todesangst zur autonomen Leistung:

ALS ICH IN WEISSEM KRANKENZIMMER DER CHARITÉ
Aufwachte gegen Morgen zu
Und eine Amsel hörte, wusste ich
Es ist besser. Schon seit geraumer Zeit
Hatte ich keine Todesfurcht mehr, da ja nichts
Mir fehlen kann, vorausgesetzt
Ich selber fehle. Jetzt gelang es mir, mich zu freuen
Alles Amselgesanges nach mir auch.

Das sprechende Ich konnte, so behauptet es, sich wohlwollend dem zuwenden, was nach seinem Tod sein wird. Unter der Prämisse "vorausgesetzt / Ich selber fehle" sei es ihm aus eigener Kraft gelungen, sich nicht in panischer Todesangst aufzulösen oder auch nur einen Anfall über sich ergehen zu lassen: Es blieb Subjekt und wandte sich Objekten zu, die deutlich von ihm getrennt sind. Das versteht es als einen weiteren Erfolg, nachdem ihm bereits zuvor die Todesfurcht ausgeblieben war. Dies will es durch intellektuelle Leistung erreicht haben, durch den von Brecht mehrfach beigezogenen Gedanken des Lukrez nämlich, dass ein Toter, da ohne Bewusstsein, nicht wahrnehmen könne, was ihm geschehe, also auch nicht leide. Seine Leistung sei ihm "gegen Morgen zu" gelungen, also in der Zeit des Anfalls damals bei Paula Banholzer, genannt Bie, in der Zeit des im Werk gestalteten Anfalls Baals, in den Stunden der Todesnähe vieler seiner Figuren Brechts, z. B. Pawels oder Jimmy Mahoneys: "Wenn der Himmel hell wird / Dann fängt ein verdammter Tag an." Jetzt, 1956, heißt es nicht mehr "Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen / Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schreien", jetzt muss das Ich nicht mehr hoffen, im Untergang sichernden Gleichmut zu bewahren: "Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich / Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit". Jetzt kann es sich "freuen / Alles Amselgesanges nach" ihm auch - das "Ungeziefer, die Vögel, fängt (nicht) an zu schreien".

Das lässt eine Abschwächung jener länger als vierzig Jahre drohenden Todesangst vermuten. Doch, dass dies Ich es erst jetzt "besser" wusste und dass es erst "seit geraumer Zeit [...] keine Todesfurcht mehr" hatte, gibt offen zu erkennen, dass sie bis dahin noch drohte. Auch lassen die alten Schutzmechanismen, nämlich die rein intellektuelle Bewältigung emotionaler Schwierigkeiten, die Betonung selbständiger Leistung und die Übertreibung, ahnen, was da immer noch kocht: Wie käme jemand dazu, sich des Amselgesangs nach seinem Tod zu freuen? Und gar "Alles Amselgesanges"! Auch folgt Brecht hier einem früh erprobten Muster, die Angst mit Hilfe der Vorstellung zu überwinden, dass die Welt auch nach dem individuellen eigenen Tod fortexistiert. So ließ er 1922 Baal im Sterben zu sich selbst reden:

Habe keine Angst: die Welt rollt weiter, kugelrund, morgen früh pfeift der Wind.
Stelle dich doch auf einen etwas überlegeneren Standpunkt. Denke dir: Eine Ratte
Verreckt. Na also!

Der 'überlegenere Standpunkt' dessen, der denkend auf sich herab-, aber auch hinaus auf "die Welt" schaut, erlaubt es, Todesangst zu meiden. Das gelingt noch besser, wenn diese Welt positiv konnotiert ist. Schon in der Fassung von 1919 singt Baal, an den die "Verwesung" herankriecht, "brutal" seine Angst überbrüllend "Schwimmst du hinunter mit Ratten im Haar / Der Himmel drüber bleibt wunderbar." 1921 spielt Brecht dann im Tagebuch mit einem Blick hinaus in die Zukunft, der den Tod anerkennt, ohne unter ihm zu leiden:

Einer kann herkommen aus Tiflis und mich töten.
[...]
Und
Viele vögeln die Weiber, rauchen, trinken und schwatzen und
Es ist durchaus all right.

Dies "all right" steigert Brecht 1956 zur Freude. Selbst damals noch inszenierte er also sichernde Überlegenheit - und die lässt auf Bedrohung schließen.

Brecht hat zahlreiche solcher Mechanismen ausgebildet, um sich vor Gefühlen schützen: vor jener - wie er sie nannte - "Gefühlsverwirrung", die den in Todesangst treibenden Kreislauf von Vereinigungs-, Trennungs- und Selbständigkeitsphantasien auslöst. 1919 z. B. notiert er im Tagebuch einen kleinen Katalog solcher Schutzmechanismen: "Wieder... das Grippewetter, das einen vergiftet, man... raucht sich zu Tode. In aller Frühe hat man seinen Herzkrampf, stolziert dann herum wie aus Glas, kann wegen der Eiseskälte... nicht arbeiten. Nachts wird die Marianne kommen, eine barbarische Freude, dann wird alles besser und kriegt Sinn. Ich würde gern den steifen Hut aufsetzen, aber es regnet und stürmt, und ich würde gern Schnaps trinken..., aber dann riecht man aus dem Mund. Ich kann nicht arbeiten, singe bloß Choräle und Wedekind. Das ist ein Erbauungsschriftsteller wie wenige. Er und ein Revolver und kein Gewissen, aber Geschmack: Das ist besser als die Konfirmation. Auch Geschwätz ist gut, es ist zuviel Pause zwischen den Sternenhimmeln. Wieviel Sinn für Romantik ist nötig!"

Er sucht sichernde Gefühlsferne im Rauchen seiner Virginia, im Tragen des steifen Huts, in körperlicher Versteifung, in Chorälen, in der Lektüre Wedekinds, in 'barbarischen Freuden' der Liebe, in aggressiver Brutalität und in Arbeit, also im Schreiben, was ihm hier allerdings nicht gelingt. All dies soll verhindern, dass er sich passiv gefährlichen Gefühlen ausliefert. Schnaps könnte beitragen, die "Pause" nicht zu bemerken. 'Pausen' nämlich, 'Pausen' zwischen intensiver Zuwendung zu äußeren Objekten, z. B. den "Sternenhimmeln", der Literatur oder 'barbarischer' Liebe, solche 'Pausen' sind gefährlich. Falls diese bedrohlich 'leere' Zeit sich nicht überbrücken lässt, droht Angst. 1927 wird er notieren: "Die Wollust wäre das einzige, aber die Pausen sind so lang, die sie braucht! Wenn man den Extrakt ausschlürfen könnte und alles verkürzen! Ein Jahr vögeln oder ein Jahr denken!... Politik ist auch nur gut, wenn genug Gedanken vorhanden sind. (Wie schlimm sind auch hier die Pausen!)"

1919 sollte noch "Romantik", also poetisierende Selbsttäuschung, über 'Pausen' hinweg helfen, wenigstens aber sollte "Geschwätz" sichernde Objekte gegenwärtig halten. Andere Schutzmechanismen, er nannte sie "Mittel", waren Vermeidung, er ging z. B. nicht zum Begräbnis seiner Mutter; "Mittel" gegen bedrohliche Gefühle waren seine zum Teil provokativen Selbstinszenierungen, seine demonstrative "Kälte", ja Brutalität und zunehmend dann sein Denken und Schreiben, während er religiöse "Mittel", wie "Konfirmation" und bald auch "Choräle", früh schon aufgab.

Eines seiner "Mittel" gegen die Todesangst war der Versuch, gänzlich gefühllos zu werden, wie er es 1931 im "LIED DER MUTTER ÜBER DEN HELDENTOD DES FEIGLINGS WESSOWTSCHIKOW" stilisierte:

Als er zur Wand ging
Konnte er sterben.
[...]
Schickte sich an, bedroht, sich schnell zu verwandeln in
Unbedrohbaren Staub. Und alles
Was noch geschah, vollzog er wie
Abgemachtes, als erfülle er
Einen Vertrag. Und ausgelöscht waren
Ihm im Inneren die Wünsche. Jegliche Bewegung
Untersagte er sich streng. Sein Inneres
Schrumpfte ein und verschwand. Wie ein leeres Blatt
Entging er allem
Außer der Beschreibung.

Wer keine "Wünsche" mehr hat und sich "Jegliche Bewegung" untersagt, kann hoffen, dem Sog jenes Kreislaufs zu entkommen.

Seiner "Mittel" konnte Brecht freilich nicht sicher sein, nicht einmal dem "Mittel" der Herrschaft über sich selbst. 1916 vermerkt er im Tagebuch:

"21.10.16

... ich lasse mich nimmer unterkriegen. Ich kommandiere mein Herz. Ich verhänge den Belagerungszustand über mein Herz. Es ist schön, zu leben.

22.10.16

Nein. Es ist sinnlos, zu leben. Heute Nacht habe ich einen Herzkrampf bekommen, daß ich staunte, diesmal leistete der Teufel erstklassige Arbeit. Heute philosophiere ich ich wieder..."

Kaum meint er, sein Herz zu beherrschen, brechen die Angst und mit ihr der Anfall wieder durch. Vermutlich war es das Gefühl von Selbständigkeit und Freude, das den Kreislauf zwischen Sehnsucht nach Autonomie und Sehnsucht nach Verschmelzung abermals anstieß. Doch alsbald erhebt er sich selbstironisch und schreibend, dann sogar philosophierend-denkend über seine Ohnmacht: Der Kreislauf kann sich fortsetzen.

All seine Rettungsmittel können umschlagen, sobald sie in den Sog jenes unbewussten Kreislaufs geraten: Selbstbeherrschung, ja der Wille zur Macht, schlägt um in Ohnmacht, die Virginia in Todesstoff ("man... raucht sich zu Tode"), die rettende Frau in die gefährliche, welche ihn verlässt, betrügt, gefangen hält oder in den Tod schickt. Dieser Sog bedroht ihn deshalb besonders, weil er, wie es von jenem Typ B beschrieben wird, allermeist kontraphobisch auf das Ängstigende zugeht, ihm also nicht ausweicht, sondern es in eigene Regie nimmt, deutlich sichtbar z. B., als er, der nachts von Todesangst geplagte Gymnasiast, sich des Tags, unter jedem Arm einen Totenschädel, in provokativ in demonstrierender Geste fotografieren lässt: 'Seht her, ich kann mit dem Tod sogar spielen!'

Doch solch triumphierende Selbständigkeit kann jenen Kreislauf, über den er sich zu erheben sucht, erneut anstoßen, dies kann aber auch das, womit er spielt, hier also die Totenschädel. All seine Mittel sind ambivalent, und das umso mehr, je stärker sie an jenen Kreislauf erinnern. Das gilt vor allem für die geliebten Frauen, hinter denen das nicht zu kontrollierende gefährliche frühe Mutterbild wieder aufzutauchen droht und mit ihm die Todesangst. Das macht weitere "Mittel" erforderlich, um sie auf sichernder Distanz zu halten. Hierzu entwickelte Brecht allmählich ein Geliebtensystem, das ihm erlaubte, sich vor der einen Frau durch die andere zu schützen oder auch durch Mitarbeit am gemeinsamen Werk oder durch die "dritte Sache". Früh schon hatte hierzu ein weiteres "Mittel" gedient: die "Vorläufigkeit".

Seine "Mittel", also seine Antworten auf die Angst, verdecken diese Angst nahezu. Doch von ihnen her können wir ihr nachspüren. Mit seinem Schreiben sublimierte er etliche "Mittel" zu literarischen Verfahren und machte sie kulturell fruchtbar. Hier konnte er bewusst wahrnehmbare Repräsentanten des anziehenden und doch so gefährlichen unbewussten Objekts - das Meer z. B., die Frau, die Stadt oder die kapitalistische Gesellschaft - kontraphobisch gegenwärtig halten und die bedrohliche Anziehungskraft des unbewussten Objekts in wohlkontrollierter Dosierung so zu genießen, dass keine Angst ausbricht. Das hat Brecht als Foto festgehalten. Es zeigt ihn zusammen mit dem körperlich weit überlegenen Boxweltmeister Samson-Körner, der seine Linke mütterlich behütend auf Brechts kleinen Intellektuellenschädel legt, ihn leicht nach vorne drückt und ihm die geballte massige Faust entgegenhält, ganz ohne Wut in den Zügen. Gelassen, vielleicht etwas beklommen, aber doch lächelnd, blickt der schmale Brecht, die Hände in der Hosentasche, auf die drohende Faust; er hat dies für den Fotografen ja selbst inszeniert: ein Spiel mit der Gefahr. Der Regie des Bedrohten unterstehen das Verlockende, die Bedrohung und der kontraphobische Blick.

Seinem Baal gab er diesen für ihn idealen Umgang mit dem anziehenden, jedoch angstauslösenden Objekt mit auf den Weg:

Und das große Weib Welt, das sich lachend gibt
Dem, der sich zermalmen läßt von ihren Knien
Gab ihm rasende Ekstase, die er liebt
Aber Baal starb nicht - er sah nur hin.

Dieses Ideal kontraphobischen Umgangs mit dem Anziehend-Bedrohlichen wurde für Brecht mit seinem Schreiben Wirklichkeit. Als Strukturmuster begegnet es allenthalben in seinem Werk - und das in all dessen Wandlungen. Die Todesangst ist dort als Signalangst in Spurenelementen nahezu überall gegenwärtig, sie scheint jedoch gebannt. In der frühen Baal-Phase etwa sucht "rasende Ekstase" vitalistischer, oft brutal vorgetragener Lebensbejahung sie zu übertönen - "Ich fliehe vor dem Tod ins Leben" lässt Brecht seinen Baal sagen -, später blinkt dann Todesangst hinter der Gestaltung gesellschaftlicher Konflikte auf. Die bewusst wahrnehmbaren Repräsentanten des unbewussten Szenariums wechselten, z. B. von vitalistisch inszenierter Natur zur Gesellschaft; die "Mittel", die nicht mehr halfen, wurden abgestoßen und durch brauchbarere ersetzt, "Konfirmation" und "Choräle" z. B., also die christliche Tradition, durch Parodie und schließlich durch Dialektik, doch die Struktur blieb.

Die Texte konstituieren sich vielfach als strukturelle Einheiten von bedrohlich anziehenden Momenten einerseits und andererseits kontraphobischem, rational gesichertem Zugehen auf Repräsentanten jenes gefährlichen Szenariums. Seit Beginn der Zwanziger Jahre finden wir hier als wesentliches "Mittel" die Haltung des aufklärenden, wertenden oder anleitenden Lehrers. In "Vom Schwimmen in Seen und Flüssen" etwa kann das anleitende Ich sich weit vorwagen zu Phantasien symbiotischer Grenzauflösung; sie sind ihm ja Lehrstoff, den es Anderen vorträgt. Mithilfe seiner souveränen Position als Lehrender kann dies Ich vor der Quelle seines Konflikts gleichsam eine Wand aus Sicherheitsglas einziehen:

Im bleichen Sommer...
...
Muß man in Flüssen liegen...

Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen
Weiß man: ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen.
Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm
Wir liegen still im Wasser, ganz geeint.

Das Ich steigert die Gefahr noch dadurch, dass es von sich selbst spricht; doch dadurch, dass es anleitet ("Muß man") hält es die Todesangst gebannt. Spüren lässt sie sich aber dennoch, wenn "der bleiche Haifischhimmel kommt / Bös und gefräßig....".

Ähnlich wie hier in der Naturlyrik kann das Ich sich auch in anderen Bereichen, etwa in der Liebeslyrik, im Schutz der Lehrerhaltung weit vorwagen zu gefährlichen Phantasien, z. B. zur Auflösung im Liebesakt. Das gelingt besonders dann, wenn es die Frau belehrt und ihr die gefürchtete Selbstauflösung zuschiebt, ja sie ihr von der Höhe meisterlicher Warte herab sogar erlaubt:

Ich lieb es nicht, wenn Weiber lange brauchen
Die mir gefällt, die unersättlich kam
Und rasch gestillt wird, ihre schnelle Scham
Zwischen Durst und Abwehr pausenlos verhauchen.

Der Liebesakt muß sie von Grund verändern
Bis zur Entstellung!...
...
Zu unersättlich, nicht alles zu nehmen
Ist es gestattet ihr, sich zu vergessen.

Sich "bis zur Entstellung" " zu verändern", ja sogar, "sich zu vergessen", das, wovor der Typ B sich ängstigt, weil es ihn in jenen Sog lockt, das kann Brecht ansprechen; denn er lässt das Ich dies lehrend distanzieren und beherrschen. Etwa so: "'Ich kommandiere mein Herz', indem ich Dir das gefährlich Anziehende zuschiebe und es an Dir lehrend bewerte. So erhalte auch ich 'einige Ekstase, die' ich liebe; auch Baal starb ja 'nicht: er sah nur hin.'"

Mit solch kontraphobischem Schreiben, das auf Repräsentanten seines psychischen Konflikts zuging, den er in die Außenwelt verschob, auf die Natur, auf Frauen, auf den Dschungel der Großstadt und schließlich auf die Gesellschaft, konnte Brecht nicht nur mit deren Gestaltung weiter vordringen als die Literatur seiner Zeit und ihr neue Bereiche erschließen. Er lernte auf solchen 'Gängen in die ängstigende Tiefe' auch Wirklichkeit erkennen, insbesondere gesellschaftliche, wie er dies an seiner Johanna darstellte. Erkennen ist für ihn ja eine Form der Bemeisterung; jede Annäherung an das gefährliche Objekt fordert ihn dazu auf, es besser zu erkennen, um so seine Angst zu überwinden: "Ich will's wissen." Brechts Angst vor Selbstverlust und seine kompensatorische Gegenwehr, also wesentliche Selbsterfahrungen, bildeten die psychische Grundlage der gesellschaftlichen und politischen Sensibilität des Schriftstellers. Das, was er erspürte und erkannte, lässt sich allerdings nicht auf Psychisches reduzieren; es verdankt sich auch den Eigengesetzlichkeiten der erkannten Wirklichkeit.

Auf seinem gefährlichen Lernweg half ihm sein Schreiben: Gelungene Gestaltung des Erkannten, genaue Formulierungen, sie materialisierten Angstphantasien zum gemeisterten Stoff und schufen jene Sicherheit, die es erlaubt, sich dem gefährlichen Objekt erneut zuzuwenden, das nun in der außerpsychischen Welt begegnet. So konnte er dessen Repräsentanten als reale Objekte erkennend durchdringen. Damit wurde Brechts Schreibweg zum Weg des Lernens, aber auch des Beiseiteschiebens - eine kulturschaffende Sublimation. Ihn selbst schützte sein Schreiben davor, ein symptomatisch auffälliger Herzneurotiker zu werden, nicht aber davor, dass er in manchen Bereichen auch agieren musste, insbesondere im Umgang mit Frauen.

Die Rolle des Lehrers und die des Regisseurs erlaubten ihm, sein kontraphobisches Verhalten gegenüber Ängstigendem nach außen zu verschieben: auf das Verhalten zu den Zuschauern. Werner Mittenzwei berichtet von der Aufführung des "Badener Lehrstücks" 1929: "Um die Todesfurcht oder, wie Brecht im Text verbesserte, die Sterbensfurcht szenisch zu realisieren, zeigte er zehn große Fotos von Toten, die den Zuschauer zwangen, sich den Tod genau anzusehen. Das Sterben sollte in seiner ganzen Unerbittlichkeit und Scheußlichkeit vor Augen geführt werden. Als das Publikum die Aufnahmen mit großer Unlust und Unruhe ansah, gab Brecht dem Sprecher die Anweisung, dem Publikum mitzuteilen: 'Nochmalige Betrachtung der mit großer Unlust aufgenommenen Darstellung des Todes'. Die Bilder wurden wiederholt."

Kontraphobisch mutet er hier mit seinen "Mitteln", der Brutalität und dem Theater, wie einst als er mit Totenschädeln unter dem Arm paradierte, den Zuschauern das zu, was ihn selbst ängstigt. Allerdings hat er die ungreifbare Todesangst zur "Todesfurcht" konkretisiert und diese zur "Sterbensfurcht". Ähnlich hatte er zuvor schon die ihn quälende Todesangst auf die fassbare und so auch überwindbare christliche Strafangst verschoben und als "Mittel" gegen sie die Einsicht des Lukrez gesetzt, dass mit dem Tod alles ende:

Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.

Konfrontierte Brecht mit dem "Badener Lehrstück" seine Zuschauer mit dem, was ihn selbst ängstigte, um an ihnen seine Angst als von ihm erzeugte in Regie zu nehmen, so entwickelte er mit seinem Epischen Theater Verfahren, sie vor solchen Ängsten zu schützen, zuvörderst vor gefährlicher "Gefühlsverwirrung". Von der nämlich sieht er sie bedroht, z. B. in Konzerten: "Wir sehen ganze Reihen in einen eigentümlichen Rauschzustand versetzter, völlig passiver, in sich versunkener, allem Anschein nach schwer vergifteter Menschen. Der stiere, glotzende Blick zeigt, daß diese Leute ihren unkontrollierten Gefühlsbewegungen willenlos und hilflos preisgegeben sind."

Die Zuschauer würden in dem von Brecht "aristotelisch" genannten Theater in einen "Zustand der Entrückung" gebracht, "in dem sie unbestimmten, aber starken Empfindungen hingegeben scheinen". Ihnen droht "Gefühlsverwirrung", wie Brecht sie in Angst vor der Angst schon früh gemieden hatte. 1944 schreibt er: "Als Junge, als ich die Matthäuspassion in der Barfüßerkirche gehört hatte, beschloß ich, nicht mehr so wo hinzugehen, da ich den Stupor verabscheute, in den man da verfiel, dieses wilde Koma, und außerdem glaubte, es könne meinem Herzen schaden... den Beethoven mag ich immer noch nicht, ... mit... der 'Gefühlsverwirrung'".

Solche "Gefühlsverwirrung" spaltet er von sich ab und projiziert sie auf die Zuschauer, um sie vor dem zu bewahren, was ihm selbst droht. Das nennt die Psychoanalyse projektive Identifikation; sie wurde bei Herzneurotikern vielfach beobachtet: Der Arzt z. B. nimmt am Patienten seine eigene Krankheit wahr und behandelt sie dort, oder der Lehrer erzieht am Schüler sich selbst. In diesem Übertragungsmuster konnte Brecht mit seinem Epischen Theater eigene unbewusste Szenarien in Szenen der Gesellschaft überführen und so auf die Bühne bringen, Szenen von Ablösung, Befreiung, Kälte, Bedrohung oder Unterdrückung, und das oft genug in Szenen zwischen Mutter und Sohn. Diesen angstauslösenden Szenen konnte er nun im ästhetischen Arrangement ins Auge schauen, er schaute ja mit den Augen der Zuschauer. Brecht "starb nicht: er sah nur hin". So konnte er sich und den Zuschauern zu anderen Emotionen verhelfen als denen jener "Gefühlsverwirrung": zu Emotionen, wie sie das Meistern der Wirklichkeit hervorruft.

Früh schon hatte er distanzierend-sichernde Episierungsstrategien eingesetzt und sie dann weiterentwickelt; spätestens 1924 erreichte er mit "Von der Kindesmörderin Marie Farrar" einen Stand, den er als Marxist dann gesellschafts- und theatertheoretisch begründen und ausbauen konnte. Dies waren literarische Verfahren. Doch wenn angesichts des anziehenden Objekts die Angst virulent wurde, waren es auch Verfahren der Lebensbewältigung. Karl Lieffen z. B. berichtet von der Premiere der "Mutter Courage" 1950 an den Münchner Kammerspielen: "er war am Tage der Premiere sehr aufgeregt. So aufgeregt, dass er an der Vorstellung nicht selbst teilhaben wollte. Er ging in den Hildegardhof... hinter dem Schauspielhaus. Dort saß er beim Bier und ließ sich laufend durch Boten unterrichten."

Er hoffte auf den Beifall des Publikums, das für ihn in diesem Fall jenes bedrohlich anziehende Objekt repräsentierte, zugleich fürchtete er die Zurückweisung; so oder so drohte Angst. So verhielt er sich in der Struktur, die er schon lange zu der seines Epischen Theaters sublimiert hatte: Er suchte im Gasthof sichernden Abstand vom Publikum dort in den Kammerspielen, blieb jedoch auf es bezogen "und ließ sich laufend durch Boten unterrichten" - über es, nicht von ihm, und in Form sichernder Vergangenheit: 'Es klatschte' oder aber 'Es buhte', episch eben. Wo "Gefühlsverwirrung" drohte, dort halfen ihm also gelebte Szenen Epischen Theaters.

Indem Brecht seine konflikthaften psychischen Szenarien in Literatur und Theater externalisierte und in gesellschaftlichen Konflikten repräsentierte, externalisierte er auch seine Todesangst als Todesfurcht, verdinglichte sie so und stellte sie in den Ursache-Folge-Zusammenhang des gesellschaftlichen Prozesses: "Auch die Todesfurcht, die Nährmutter der Religionen, muss als Folge bestimmter gesellschaftlicher Zustände behandelt werden." Sie ist schädlich: "Meti sagte: Im allgemeinen finde ich, dass die Menschen zu unserer Zeit das unzulängliche Leben zu wenig und den Tod zu sehr fürchten. Daß sie den Tod so sehr fürchten, kommt von ihrem unablässigen Bemühen, festzuhalten, was sie haben, weil es ihnen sonst weggerissen wird. Sie können sich nur schwer von falschen Vorstellungen befreien."

Gegen die Furcht vor dem Tod setzte Brecht "die Furcht vor dem schlechten Leben... die Triebfeder aller Verbesserungen, Tugenden, Leistungen der Materialisten," also auch ihrer Politik. Im politischen Kampf gegen das 'schlechte Leben', einem "Mittel" konnte er so seine eigene Todesangst, die ihn umtrieb, verschwinden lassen. Im Widerspruch zwischen diesem "Mittel" und der Todesangst gelangen ihm solch eindrückliche, großartig in sich verspannte Texte, wie der, mit welchem der Chor der revolutionären Arbeiter Pelagea Wlassowa zusingt, dass ihr Sohn erschossen wurde.

Genossin Wlassowa, dein Sohn
Ist erschossen worden. Aber
Als er zur Wand ging, um erschossen zu werden
Ging er zu einer Wand, die von seinesgleichen gemacht war
Und die Gewehre gerichtet auf seine Brust und die Kugel
War von seinesgleichen gemacht. Nur fortgegangen
Waren sie also oder vertrieben, aber für ihn doch da
Und anwesend im Werk ihrer Hände. Nicht einmal
Die auf ihn schossen, waren andere als er und nicht ewig auch unbelehrbar.
Freilich, er ging noch gefesselt mit Ketten, geschmiedet
Von den Genossen und angelegt dem Genossen, doch
Dichter wuchsen die Werke, er sah es vom Weg aus
Schornstein an Schornstein, und da es am Morgen war
Denn man führt sie am Morgen hinaus für gewöhnlich
Waren sie leer, aber er sah sie angefüllt
Mit jenem Heer, das immer gewachsen war
Und noch wuchs.

Pawel wird zur Hinrichtung geführt, Todesangst wäre zu erwarten und bei der Mutter Verzweiflung, wie sie das angstauslösende Szenarium weckt. Doch Pawels Gang wird nicht szenisch vergegenwärtigt, sondern episch als vergangen berichtet und der Bericht als Chorlied zum Kunstgebilde stilisiert. All dies schafft Abstand von gefährlichen Emotionen. Zudem erscheint Pawel nicht als passives Opfer. Selbst das Erschossenwerden spricht der Chor ihm als eigene Absicht und Leistung zu: "Als er zur Wand ging, um erschossen zu werden". Vor allem aber, er nimmt denkend wahr, erhebt sich über die ängstigende Situation "am Morgen", erkennt noch in den tödlichen Waffen die Anwesenheit seiner Klasse, sieht in den leeren Fabriken die Masse des Proletariats, die, wie er weiß, bisher gewachsen ist und weiter wächst, also siegen wird. So lässt Brecht die schlimmste Niederlage, die doch Todesangst auslösen müsste, dialektisch in zukunftsgewisse Hoffnung umschlagen. Tod, wo ist dein Stachel? Zu spüren ist er aber dennoch, so sehr es, nun deutlich politisch motiviert, gegen die Todesangst das Denken (a), die Dialektik (b) und das Aufgehen im klassenkämpferischen Kollektiv (c) einsetzt sowie als weiteres "Mittel" den hoffnungssicheren Blick in die Zukunft (d).

Für Brecht waren Denken, Dialektik, Kollektiv, Klassenkampf und Zukunftsgewissheit, gerade weil sie ihr Recht auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit hatten, als "Mittel" gegen die Angst geeignet. - Denken (a) spielte er gegen Gefühl aus. Schon 1926 behauptet er " Das Gefühl ist Privatsache und borniert. Der Verstand hingegen ist loyal und relativ umfassend". Bei zunehmender Externalisierung seiner psychischen Konflikte setzte er auf Rationalität, spaltete von ihr seine unzuverlässigen illoyalen Gefühle, die ihn jenem Sog ausliefern könnten, ab und mit ihnen seine Angst. Diese Angst verschwieg er, wie dies vom Typ B, der sich seiner Schwäche schämt, beschrieben wird, und schloss sie von der bewussten Gestaltung im Werk aus, verschob sie jedoch auf Szenarien, die er in der Gesellschaft ansiedelt. Dort konnte er dann denkend mit ihnen umgehen und etwa im "Leben des Galilei" sogar gestalten, wie " aus einer zu großen Furcht vor dem Tode" "das Denken selber" "in Verruf gebracht" wird. Denken bannt Todesangst und wird seinerseits in Gestalt der Todesfurcht von ihr bedroht. - Dieses bedrohte"Mittel" konnte Brecht zum dialektischen Denken (b) verbessern. Hier gehen die Gedanken nun auseinander hervor und erlauben es so, auf "angenehmen Ketten von Gedanken, die weitergehen", die gefährlichen "Pausen" zwischen einzelnen Gedanken zu überbrücken, und, wo Brecht die Politik dialektisch dachte, auch die "Pausen" dort. - Im Klassenkampf (c) bot es sich an, von außen auf diesen kollektiven Kampf zu blicken und weg von individuellem psychischen Leiden. So musste solch Leiden in seiner konkreten individuellen Form auch nicht bewusst oder gar gestaltet werden. Die eigene Todesangst ließ sich auf den Tod verschieben, den der politische Feind bringt. Sie verschwindet draußen im politischen Kampf und ist dort aktiv zu beseitigen; man muss den Klassenfeind nur töten:

WEIL UNSER BRUDER SEIN BLUT musst vergießen
Drum ist unsre Fahne rot
Tod den Faschisten
Tod dem Tod.

Der angstauslösende eigene Tod wird nach außen verschoben und verschwindet im Klassenfeind, der überhöhend zum "Tod" verallgemeinert wird. Der Tod wird zum Klassenfeind und der Klassenfeind zum Tod. Nun kann der Tod als bloßer Feind bekämpft und überwunden werden. Auch das kontraphobische Angehen gegen die Todesangst wird externalisiert und ins Extrem getrieben: Es erhält sein Bild im Töten, den "Tod" bringen. - Die Zukunftsgewissheit der marxistischen Geschichtsphilosophie (d) schließlich, wie Brecht sie Pawel vor seiner Hinrichtung zeigen ließ, half auch Brecht selbst, den Blick nach vorne zu wenden, also weg von gegenwärtiger Angst. - So deutlich die psychische Bedeutung des Marxismus für Brecht sich hier abzeichnet, sein marxistisches Denken und Gestalten lässt sich allein von ihr her gewiss nicht begreifen. Deutlich sind aber auch deren psychische Antriebe und Funktionen und beider Einfluss auf Brechts Denken und Gestalten.

Brechts wichtigstes "Mittel" gegen die Todesangst war sein Schreiben. Es half "Pausen" überbrücken. Schreibend hielt er auf der flucht nach vorn das anziehende Objekt gegenwärtig, spürte und meisterte die Gefahr. Indem er dessen Repräsentanten externalisierte, erschloss er gesellschaftliche Wirklichkeit. Indem er das Ängstigende kontraphobisch hervortrieb, es zugleich aber mit seinen "Mitteln", zu denen beim Schreiben wesentlich seine künstlerischen Techniken gehörten, meisterte, gelangen ihm Texte starker innerer Spannung zwischen Emotionalität und Sachlichkeit. Todesangst, die er als Signalangst suchte und fürchtete, war ein Motor solchen Schreibens. Früh schon scheint er zu ahnen, dass die Schönheit seiner Texte sich der Todesnähe verdankt:

Wir tanzten nie mit mehr Grazie
Als über d'Gräber noch.
Gott pfeift die schönste Melodie
Stets auf dem letzten Loch.

Den Kampfruf "Tod dem Tod", den er vermutlich übernahm, können wir über nahezu alle seine Texte setzen. Kondensiert gibt er ihre Struktur wieder, und das nicht rein abstrakt als Negation der Negation, sondern emotional als Kampf und Eintreten für das Leben. Der Angst vor dem Tod entsprungen, suchen seine Texte den Tod zu besiegen, letztlich zu töten; auf der Flucht nach vorn gehen sie gegen ihn vor und besiegen ihn wenn auch nur metaphorisch: im gemeisterten Text, im spielerischen Tanz, in der 'schönsten Melodie'. Wie Baal vom Geier, so nähren auch sie sich vom Tod:

Zu den feisten Geiern blinzelt Baal hinauf
Die im Sternenhimmel warten auf den Leichnam Baal
Manchmal stellt sich Baal tot. Stürzt ein Geier drauf
Speist Baal einen Geier, stumm zum Abendmahl.

Wohl bekomm's! Den Texten bekommt's.

Literaturhinweise:

Carl Pietzcker: "Ich kommandiere mein Herz". Brechts Herzneurose - ein Schlüssel zu seinem Leben und Schreiben. Würzburg: Verlag Königshausen und Neumann 1988.
Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Carl Pietzcker auf dem 12. Symposium der Internationalen Brecht-Gesellschaft "Brecht and Death / Brecht und der Tod" (12.-16. Juli 2006 in Augsburg) gehalten hat. Eine überarbeitete Fassung mit Zitatbelegen und Fußnoten erscheint voraussichtlich 2007 in den Tagungsakten, die Stephen Brockmann, Jürgen Hillesheim und Mathias Mayer herausgeben. Ihnen und Carl Pietzcker danken wir für die Genehmigung zur Publikation.