Reine Wollust?

Michel Onfrays Theorie der Autoerotik mangelt es an Stringenz

Von Martin A. HainzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin A. Hainz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbstliebe und Egozentrik sind längst Themen der Philosophie - vor mittlerweile 150 Jahren starb Max Stirner, Verfasser des geradezu berüchtigten Bands "Der Einzige und sein Eigentum", der sich bereits ausgiebig mit dem Thema Egoismus beschäftigte. Über eine Hürde hinweg kamen seitdem indes die wenigsten Versuche: Wen liebt das Selbst? Hier ist plötzlich ein akkusatives Ich, ein Mich - eine Figuration des Anderen also, das nicht zu lieben wie sich selbst die unchristliche Maxime aller Egozentrik sein muss.

Michel Onfray formuliert eine Theorie der Autoerotik, die genau diese Verlegenheit frontal angeht, was bedeuten müsste, der Unergründlichkeit des Selbst sich zu ergeben, sich als Rezeptor der eigenen Schönheit zu entwickeln, das heißt sich als den Inbegriff des Anderen zu sehen zu lernen, das zugleich durch diesen Rezeptor erst fassbar wird. Ein zweifach Liebenswertes also ist das Ich, als Subjekt und als Objekt, das sich dem Subjekt verdankt. Dieses Ich hat nichts vom bedürftigen, diese Bedürftigkeit kompensierenden Eros, der bei Platon darum als hässlicher Gott imaginiert wird, weil es ihn zum Schönen als dem, was er nicht hat, zieht. Onfray will programmatisch mit dieser Logik, "die [...] Begehren und Mangel in eins setzt", "Schluß [...] machen".

Das Problem dieses Frontalangriffs wider alle Nicht-Egozentrik ist allerdings die Frontalstellung selbst - der Kopf dient hier vor allem zum Stirn-Bieten. Seiner These nämlich geht Onfray in einer Art von Manifest nach, einer Tirade wider die unter anderem "talmudischen und dekonstruktiven Hanswurstiaden"; das ist eine Brandrede, der es an Stringenz mangelt, wo die Spannung sich als konstitutiv erweist, welche die Transzendenz kennzeichnet.

Denn auch wenn es stimmt, dass die Logiken, die Onfray verwirft, seit der Erbsünde Konzepte entwickeln, nach denen der Mensch Demut und Dummheit gelehrt wird, ist es nicht einzusehen, was die "Begierde nach intellektueller Autonomie" suche. Es müsste eine Verbindlichkeit sein, also eine Form von Gesetz, doch Onfray ist explizit Verächter "eines vom Gesetz besessenen Denkens". Oder es müsste eine Form des Denkens sein, die ihre Teilhabe am Sein begreift, was indes die metaphysischen Auslassungen Onfrays lächerlich erscheinen lässt: "Die männliche und weibliche Ejakulation beweist die Unmöglichkeit einer Liebesreligion und das Vorhandensein eines Atheismus in der Materie." Gott ist ein Trick der "Verkäufer des Gehorsams", so schließt der Autor - doch wessen Trick ist seine kaum weniger hanebüchene oder weniger dogmatische Position?

Viel freier scheint die christliche (konkret: katholische, von Karl Rahner vorgetragene) Position zu sein, die sich preisgibt, indem sie keinen Gottesbeweis dieser Struktur mehr formuliert, aber einmahnt, es sei der Umstand, "(d)aß man einem Bösewicht eine mathematische Wahrheit, nicht aber einen Gottesbeweis einleuchtend machen kann, [...] kein Zeichen für die Stärke des einen und ein Zeichen der Schwäche des anderen, sondern ein Zeichen für den Grad, in dem der Beweis den Einsatz des Menschen selbst verlangt."

Das Lob der "Tugenden der Immanenz" Onfrays ist also von einer Libertinage, die es nicht einmal mit jener des Christentums aufnehmen kann; die reklamierte Begierde nach intellektueller Autonomie wird zur Empfehlung des Fatums einer gottlosen Existenz, womit die Aufklärung einiges an Gegenaufklärung und dunkelster Metaphysik wieder in sich trägt: Diese schwingt noch in der Forderung nach "Wollust pur" mit - dieser Verdacht wider die Gemische liest sich doch sehr afterplatonisch. Und Lust? - Onfray spricht vom Ideal "einer freudestrahlenden Ethik"; sie besteht darin, eine "Eumetrie" zu kultivieren, die nun doch das rechte Maß zwischen Selbstsein und Genuss des Anderen ist, das aber so suspendiert ist, dass hier nur ein Exzess möglich ist: der des "masturbierenden Fisch(es)", fern noch dem "cerebralen Reich der Libido". Ein Exzess, der keiner ist, denn nur "das Begehren ist Exzeß", wie Onfray ausführt.

Zum Schluss bleibt im Atheismus in der Materie, im Atheismus an sich aber immerhin die Wahl: Man könne ein Igel oder Fisch sein, sich der Wohligkeit der Funktion dessen hingeben, was der Körper eines Selbst ist, das nun fast schon diese Funktion stört - im Falle Onfrays, indem es ihn Bücher zu schreiben zwingt, die ihn an der Umsetzung seiner Philosophie gehindert haben müssen. Denn masturbierende Fische, so weiß die Biologie, publizieren nur ganz, ganz selten Traktate oder Manifeste.


Titelbild

Michel Onfray: Theorie des verliebten Körpers. Für eine solare Erotik.
Übersetzt aus dem Französischen von Ronald Voullié.
Merve Verlag, Berlin 2001.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3883961671

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