Brecht-Injektionen

Marcel Reich-Ranicki lässt Brecht auslegen - jetzt auch im Taschenbuch

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gehört zu den wochenendlichen Gewohnheiten des anspruchsvollen F. A. Z.-Lesers, sich der Lektüre jener kleinen kommentierenden Texte zu unterziehen, die Marcel Reich-Ranicki anfertigen und mitsamt des Gedichts in der Rubrik "Frankfurter Anthologie" drucken lässt. Darunter sind - was nahe liegend ist -immer wieder auch Brecht-Gedichte, die bereits zusammengestellt und gesammelt im Hardcover erhältlich sind. Jetzt liegt endlich auch die Taschenbuch-Ausgabe im selben Verlag vor. 66 Gedichte und 66 Fingerübungen in Sachen Brecht-Interpretation werden darin präsentiert. Und Reich-Ranicki hebt damit nicht zuletzt demonstrativ die Bedeutung des Lyrikers Brecht hervor. Dass er zu den bedeutendsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts gehört, ist längst Konsens. Ob sein lyrisches Werk sein dramatisches überleben wird, wie Reich-Ranicki behauptet, kann offen bleiben. Das sind Konkurrenzen, die sich schnell selbst erledigen, im einen oder anderen Sinne.

Hier aber geht's um die Art und Weise des Lesens, denn Leuten, die Brecht nicht mit Lust lesen, entgeht etwas. Das ist guter Stoff - wenn auch weitaus vertrackter als man auf den ersten Blick denkt. Brecht war ein Meister. Einfaches einfach ausdrücken, auf den Punkt kommen und gegen den Strich bürsten - das Brecht-Prinzip ist immerhin einigermaßen leicht zu kopieren, aber nur schwer zu erfinden. Und er hat definitiv die Rechte an seiner schnoddrigen Art, die Lyrik vom Kopf wahlweise auf die Füße zu stellen oder ihren realen Ort im Unterleib zu lokalisieren. Nein, es geht nicht gesittet zu in der lyrischen Welt des Bertolt Brecht. Es gibt keine großen Augen, keine ausufernden Träume, keine Sehnsucht nach einem Utopia. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn die Liebe konkret wird und Politik konkret werden müsste.

Und trotzdem ist Brecht in seiner Lyrik nicht Brecht, weder dort, wo von einem B.B. die Rede ist, der aus den schwarzen Wäldern kommt, noch in den Texten, in denen einfach "ich" gesagt wird. Noch in den vermeintlich persönlichsten Texten ist Brecht selbst weit weg. Um den Auftaktsatz Günter Kunerts aufzunehmen: "Ein autobiographischer Text?" Und um ihm zu widersprechen: Auf keinen Fall. Nichts ist widersinniger als den begeisterten Rollenspieler Brecht in seinen lyrischen Texten wiederfinden zu wollen. Das soll nicht heißen, dass Brecht nicht seine Perspektive, seine Thesen, sein biografisches Material ebenso freigebig und ausgiebig benutzt hätte, um daraus Literatur zu machen.

Keine Frage, Brecht wollte stets, dass seine Anregungen und seine Zugriffsweise auf das, was es im Leben, der Klassengesellschaft, der Moderne zu regeln gibt, von anderen gesehen oder wenigstens geprüft würden (es ehrte notfalls beide). Aber nichts lag ihm ferner, als sich selbst und seine Leiden und Vergnügungen zum Ziel seiner Texte zu machen. Wenn, dann waren sie bestenfalls geeignete Vehikel. Es geht nicht um Brecht, ließe sich vielleicht im Sinne Brechts sagen, gerade dann wenn Brecht zum Greifen nahe zu liegen scheint. Auch und gerade in jenem angeblich so persönlichen Genre, das sich Lyrik nennt. Das Persönliche am Lyriker Brecht ist das, was ihn und seine Texte überpersönlich macht. Sich auf die Fährte seiner subjektiven Verfasstheiten zu machen, ist der falscheste Weg, den man in dieser Sache einschlagen kann.

Gerade das aber macht Brecht zu dem großen Dichter, der er ist. Reich-Ranicki, der nur ein knappes uninspiriertes Vorwort zu seiner Sammlung geschrieben hat, hat sich solchen Fragen (der Größe, des Bleibens, des Bestands und der eigenen Kultur) an anderer Stelle, etwa in einer seiner eigenen Interpretationen, gewidmet. "Was bleibt von der deutschen Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts", fragt er da, und ein Teil der Antwort hat man in diesem Band vorliegen: Brecht natürlich, wenn nicht er, wer sonst? Aber Reich-Ranicki dreht (beinahe brechtisch) die Frage noch einmal um und dekretiert: "Ich kann mir ein Deutschland nicht vorstellen, dem seine, dem Brechts, Dichtung gleichgültig sein könnte." Und genau dem ist nur zuzustimmen. Letztlich ist es egal, wie jemand mit diesen Texten umgeht und was er oder sie aus ihnen liest, aber ein Deutschland, das die Verfahren und Perspektiven, die Brecht hier vorexerziert, nicht mehr wahrnimmt, wäre ein Land, das vieles von seiner Qualität verloren hätte.

Allerdings bleibt immer noch die Frage, ob das, was wir hier lesen, der echte Brecht ist. Jan Knopf wenigstens macht in seinem Beitrag für den neuen Brecht-Band bei text+kritik darauf aufmerksam, dass das Gedicht "Die Liebenden", das auch Marcel Reich-Ranicki in seinem Band berücksichtigt hat, den falschen Titel und einen korrupten Text habe. Der verbindliche Text stehe unter dem Titel "Terzinen über die Liebe" und weiste kleinere Abweichungen auf: Ein Fiasko des Herausgebers?

Am Ende vielleicht doch nicht. Denn die Abweichungen sind nicht groß genug, um sich darüber ernsthaft zu streiten, und die Grundsatzdebatte darüber, über welchen Brecht wir reden, erledigt sich mit der Zeit und ohne dass man der Berliner und Frankfurter Ausgabe, deren Mitherausgeber Knopf ist, nachsagen müsste, sie löse alle Probleme und dann auch noch vorbildlich. Dass sie ein Fortschritt ist, vielleicht sogar ein Meilenstein, ist wohl unbestritten.


Titelbild

Bertolt Brecht: Der Mond über Soho. 66 Gedichte mit Interpretationen.
Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki.
Insel Verlag, Frankfurt 2006.
278 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3458349073

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