Atlantis der Kindheit

Frank Schulz hat endlich den dritten Teil seiner "Hagener Trilogie" vorgelegt: "Das Ouzo-Orakel"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ganz klar Weltliteratur", meinte ein angesehener Buchhändler einer kleinen hessischen Universitätsstadt neulich, als wir über Frank Schulz' "Hagener Trilogie" sprachen. Die ist jetzt also nach den veritablen Kultbüchern "Kolks blonde Bräute" (1991) und "Morbus fonticuli oder die Sehnsucht des Laien" (2001) endlich abgeschlossen mit dem knapp 550-seitigen dritten Teil "Das Ouzo-Orakel".

So überschwänglich wie der zufällig aus Norddeutschland stammende Fan urteilten jedoch zunächst die vielen Verleger nicht, die Schulz' bisheriges opus magnum "Morbus fonticuli" allesamt ablehnten, bevor der Autor damit endlich bei Haffmans ein angemessens Zuhause fand. Kurz darauf ging der Verlag pleite. Das war wirklich Pech. Doch dann nahm sich Eichborn des schicksalsgebeutelten Odysseus' der neueren Geheimtipliteratur an, und auch die beiden älteren Bücher sind mittlerweile in der Taschenbuchedition "Gerd Haffmans bei Zweitausendeins" wieder greifbar.

Alles in Butter also, so weit. Mit zwei griffigen Schutzumschlag-Zitaten bewirbt nun Schulz' aktueller Verlag den neuen Band - Sprüche, die auch schon auf und in anderen Ausgaben der früheren Teile zu lesen waren und offenbar immer noch ziehen: "Sowieso mein Lieblingsautor" (Harry Rowohlt) und "So hätte Arno Schmidt geschrieben, wenn er nicht bescheuert gewesen wäre" (Gerhard Henschel).

In der Tat. Letzterer Vergleich wird auch in dem neuen Roman einmal mehr sinnfällig, liest man doch hier ganz erstaunlich viele Mondaufgangsmetaphern. Eine Marotte erfinderischer und vor allem angeblich zeitlich realistischer Umschreibungen eines banalen Naturphänomens, für die Schmidt bislang das alleinige Trademark hatte - sieht man einmal von einigen stümperhaften Stilblütenversuchen Julie Zehs ab, die neuerdings ebenfalls zu versuchen scheint, das große Bargfelder Vorbild ungefragt zu beerben. In der Danksagung im Anhang seines Romans erinnert Schulz noch einmal auffällig an Schmidts neoromantische Präferenzen, gepaart mit spleeniger buchhalterischer Präzision, wenn er einem Freund für die "Erstellung einer Liste von Sonnen- und Mondauf- sowie -untergangszeiten im Juni 2000" dankt. Zumindest die Schmidt-Gemeinde, die Schulz spätestens seit "Morbus fonticuli" in wachsamer Zuneigung gewogen ist, wird diesen Wink mit dem Zaunpfahl zu lesen wissen.

Auch mit Gerhard Henscheids Büchern ist Schulz' stupende Alltagskomik mehrfach verglichen worden, und zusammen mit dem zumal in "Morbus fonticuli" besonders oft erwähnten Vorbildkomiker Heino Jäger wären dann auch schon die wichtigsten intertextuellen Bezugspunkte für Schulz' Schreiben benannt. Im aktuellen Roman, der größtenteils in Griechenland spielt, wird zwar öfters Homer zitiert, doch sind dies eher launenhafte Spielereien ohne größere Bedeutung für den Erzählstrom des Textes.

Schulz gibt sich darin viel Mühe, den außerordentlichen Schauplatz für die kruden Mätzchen seines deutsch-griechischen Figurenarsenals mittels weit ausholender Landschaftsbeschreibungen plastisch zu machen. Kouphala heißt das verwunschene Dorf, in das sich Bodo Morten nach Alkoholentzug und kurzzeitigem Psychiatrieaufenthalt zurückgezogen hat - die "Morbus fonticuli"-Leser werden sich erinnern -, und seine verliebten Beschwörungen der Schönheit dieses antiken Unterschlupfs durchschießen immer wieder die burleske Handlung des Buchs.

"Der Südhorizont eine dunstige Gratkette, doch der Westen das Tor zum gleißenden Meer, bewacht von zwei Berghügeln, Leibern kolossaler Ungeheuer - eine Art Schildkröte das eine, knollig verknoteter Lindwurm das andere", heißt es bereits gleich zu Beginn des Romans, doch da ist es die Wahrnehmung Monika Freymuths, jener Beeckdörper Jugendliebe Mortens, die zufällig in seinem idyllischen Refugium auftaucht, um seine gesamte zölibatäre und antialkoholische Askese gehörig durcheinanderzubringen. "Als hätten sie sich einst niedergebeugt, um zu saufen oder zu kämpfen, wären aber zu Stein verflucht worden und im Laufe der Äonen überwuchtert von Busch und Nadelwald", führt Schulz die kulissenbildende Landschaft aus Sicht dieser Besucherin ein - und natürlich ist mit solchen Metaphern auch schon etwas von den satt überzeichneten, ins fast schon Naturkatastrophenhafte hyposthasierten Geschlechterkonflikten angedeutet, die nach ihrem Auftritt unweigerlich folgen werden.

Damit konnte der Protagonist des Romans nicht rechnen. Wie eine der verschrobenen misanthropischen Figuren Thomas Bernhards hat sich Morten in seine abgelegene "Villa Arkadia" zurückgezogen in der Annahme, "Das Weib" schlechthin sei sein größtes Problem, und er müsse ihm einfach konsequent aus dem Weg gehen, um endlich Frieden zu finden.

"Linksknöpfer" nennt Morten diese ihm unheimliche, verführerische Spezies nur noch, um das, was sein empfindliches Gleichgewicht im Nu zu zerstören droht, kurzer Hand lächerlich zu machen und im Alltag rigoros zu bannen: "Ja, Linksknöpfer war ein gutes Schimpfwort, ein sehr gutes Schimpfwort war das. Weiber knöpfen links, und unbeschreiblich war meine Erleichterung, nur anhand eines harmlos-hübschen Fluchs jene feindlichen Intelligenzen auf einen Tic herunterkürzen zu können; jene täuschend warmblütigen, duftenden Circen auf einen Unterschied festnageln zu können, der sowas von Jacke wie Hose war - kurzum, jene langwimprigen, rundhüftigen Halunken mit Herzen aus Hartgummi restlos dingfest gemacht zu haben", erklärt Schulz' privatgelehrter Maulheld - und damit gleich mit, dass er wirklich ein handfestes Problem, um nicht zu sagen einen ordentlichen Hau hat. "Sigmund Freud: 'Was will eine Frau eigentlich?' Bodo Morten: 'Mir egal!'" lautet seine griffige Kurzformel etwa in der Mitte des Romans. Doch da ist uns längst klar, dass das Morten sooo Wurst dann doch nicht bleiben kann, was die fremden Wesen wollen, die sich hinter seinem privatsprachlichen terminus rusticus verbergen.

Diese ironisierte Mysogynie ist die eine Zutat des manchmal im Vergleich zu den ersten beiden Büchern des Autors dann doch etwas enttäuschend fade geratenen Prosa-Moussakas - und die andere, wohl bemerkenswertere, ist der gekonnte alltagssprachliche Realismus, Schulz' große Stärke seit Anbeginn. Diesmal wird außerdem nicht nur Plattdeutsch geredet, sondern unter anderem auch berlinert, was das Zeug hält. Der "unvermeidliche Sven" ist dafür zuständig, ein gut gebauter Love-Parade-Simpel und hirnloser Astrologiejünger wie er im Buche steht. Mit seinem nervigen Esoterik-Gerede bekommt er immer wieder ordentlich aufklärerischen Gegenwind von Seiten des Protagonisten - Passagen, die zu den besseren Ideen im sprachlichen Slapstickprogramm gehören, das Schulz hier so routiniert wie nur je durchzieht.

Schön auch die Idee, Teile des Romans ganz aus der Sicht Monika Freymuths zu erzählen. Dies gerät allerdings zumeist verdächtig klischeehaft. Irgendwie denkt diese Frau dann doch so doof, wie sich der Held das 'feindliche' Geschlecht schon immer ausgemalt hat - wenn es in diesen Kapiteln auch konterkarierende Momente echter Empathie zu verzeichnen geben mag. Überhaupt stehen Reaktionen von Seiten der feministischen Kritik wohl noch aus, was Schulz' einfach gestrickten Geschlechterkosmos betrifft. Soviel ist jedenfalls schon mal klar: Die Männer kommen bei diesem Autor auch nicht besser weg - im Gegenteil.

Am gelungensten ist Schulz in seinem Buch wohl jene Passage, die aus der Perspektive des kindlichen Schützenfestprinzen Bodo berichtet wird. Selten wurden der Schmerz und die Verwirrungen der beginnenden Pubertät auf dem platten Land im Jahre 1969 eindringlicher und zugleich lustiger beschrieben. Typische Beeckdörper Schießbudenfiguren wie Schorse Fick ("Dat dröf doch nich wohr sein, Schiet, Minsch...") werden hier aus jugendlicher Beobachtung in einer Weise gezeichnet, wie sie plastischer kaum sein könnte.

Und plötzlich tritt die Urgewalt der Sexualität auf den Plan und zerstört diese schönen Koordinaten einer staunend wahrgenommenen, burschikosen Jungenswelt mit einem Schlag. Nichts, aber auch gar nichts, was hier vorher Lebenssinn ergab, hält dieser katastrophalen Erschütterung stand: "Meine Erbsenpistole: Mist! Meine Cowboy-und-Indianer-Sammlung aus den Wundertüten: Müll! Mein Traktor mit Einzelaufhängung vorn, der echte Profilspuren im Sandhaufen machen konnte: Schrott! Alles, was mich stets begleitet hatte in die Versenkung der Zeitlosigkeit, was mir zu den Wonnen an der Nachahmung der Welt verholfen hatte, was mich, kurzum, glücklich gemacht - alles das war für alle Zeiten Schrott, Müll und Müll und Mist!", erinnert sich Morten. "Nie wieder Spaß am Spiel, und die Kumpels waren sowieso so kindisch und blöd, und das einzige auf der großen weiten Welt, was ich als Entschädigung für meine unersetzlichen Verluste zu schätzen vermöchte, wäre ein Lächeln von ihr."

Die darauf folgende Szene, in der der verschüchterte Junge seiner angebeteten Schützenfestprinzessin Monika nach einigem Ringen mit sich selbst endlich die extra für sie geschossene rote Plastikrose schenkt, hat bei aller geschilderten Infantilität Klasse. "Die ist ja gar nicht echt", lautet die trockene Antwort des geliebten Mädchens, und danach nimmt das typische Männerschicksal seinen Lauf. Leserinnen - Entschuldigung, "Linksknöpfer" -, die wissen wollen, warum Männer wie Morten um die 40 plötzlich wieder anfangen, Sergio-Leone-Western zu gucken, um dabei weinerlich an Fuselflaschen zu nuckeln, erhalten in dieser absoluten Schulz-Schlüsselszene Aufklärung: "Und ich trinke den ersten Schluck Bier meines Lebens", lautet Klein-Bodos Pawlow'sche Reaktion auf den herben Korb seiner grünäugigen Prinzessin, "warm und bitter; brrr. Aber es muß sein. Früher oder später muß es sowieso sein. Und da, ab dem dritten, vierten Schluck, da beginne ich zu verstehen... Ja, ab dem vierten, fünften Schluck, da geht's erst richtig los... Ja...".

Ja. Und ein Thomas-Bernhard-Zitat ist naturgemäß auch noch versteckt in der Anekdote mit der kitschigen Plastikrose, die Morten noch in Kouphala immer wieder aus einem alten Karton zieht, um sich mittels ihrer Kontemplation an seine verlorene Kindheit zu erinnern - oder an das, was damals schief lief und die Weichen für spätere Nervenzusammenbrüche stellte. Man muss unwillkürlich an die Adalbert-Stifter-artige Travestie in Bernhards großem Roman "Korrektur" (1975) denken, in der der Erzähler sich mittels einer gelben Papierrose ebenfalls an ein ländliches Schützenfest erinnert, einen verlorenen Moment des Glücks, verborgen hinter einem Gegenstand, der eigentlich in den Müll gehört.

Es ist das Herz dieser Geschichte, deren letztendliche Auflösung in befreiendem Lachen hier natürlich nicht verraten werden soll, ihre tragische Komponente: Morten sucht weiter vergeblich nach dem Schlüssel seiner Probleme, dem "Atlantis meiner Kindheit", wie er es einmal nennt. Es ist eine permanente Fahndung nach den Traumata, die auch seine griechischen Erlebnisse mit Spyros, dem Jüngeren und all den anderen skurrilen Figuren im Geheimen bestimmen und verdunkeln, aufgelöst in Momenten subtiler bis brachialer Komik.

Es ist nicht Schulz' bestes Buch, aber ein würdiger Abschluss der Trilogie. Drei Bände liegen nun damit vor, die in jeden gut sortierten Bücherschrank gehören: Ob sie nun gleich ins Pantheon der "Weltliteratur" aufgenommen werden, muss erst die Geschichte zeigen. Ins würdige Kontinuum der deutschsprachigen Literatur des neuen Jahrtausends hat sich Schulz aber allemal herübergerettet.


Titelbild

Frank Schulz: Das Ouzo-Orakel. Roman.
Eichborn Berlin, Berlin 2006.
545 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3821807296

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