Viel beweinte Schatten

Christian Heinrich Spieß' gesammelte "Biographien der Selbstmörder"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich will nicht schaden, sondern, wo möglich nützen!" Mit diesen Worten leitete Christian Heinrich Spieß 1785 den ersten Band seiner "Biographien der Selbstmörder" ein. Ein "inniges Erbarmen" habe er mit den unglücklichen Suizidenten, die so häufig durch äußere Umstände zu ihrem Schritt gezwungen wären. Doch nicht um Proselyten zu machen, schreibe er die Lebensgeschichten der Selbstmörder aus Liebe, Armut oder Ehrgeiz auf, sondern um zu warnen - den Jüngling, "daß er nicht leichtsinnig mit der Tugend seines Mädchens scherze", das unerfahrene Mädchen, damit sie nicht ihre Tugend verliere - aber auch und vor allem, um für die "Elenden" zu sprechen, damit ihre Mitmenschen einsehen, "daß eine geringe aber liebreiche Hülfe oft des Menschen Leben rettet": "Strafet den Mörder, und nicht den Ermordeten! Seyd nicht allein Richter, sondern auch Hirten des Volks, und wachet über die armen Schafe, daß die Wölfe sie nicht zerreißen!"

Vom "allgemeine[n] Beyfall" des Publikums begleitet, veröffentlichte der damalige Erfolgsautor Spieß in den Jahren 1785-1788 noch drei weitere Bände seiner Suizid-Geschichten. Aufklären wollte der Autor das Publikum über die Hintergründe eines Selbstmords, zur Prävention beitragen und um Verständnis für diejenigen bitten, denen zumindest scheinbar kein anderer Weg als der in den Tod blieb - gleichzeitig ging es Spieß jedoch auch darum, sein Publikum zu unterhalten. So pendeln die Erzählungen in "Biographien der Selbstmörder" zwischen Fakt und Fiktion, zwischen fingierter Authentizität und literarisch keineswegs anspruchloser Fabulierkunst, zwischen eifrig ausgeschmückter Fallgeschichte und reißerisch aufgemachtem Schauermärchen. Immer wieder äußert Spieß seinen Anspruch, "ächte Beyspiele" und "wahre Geschichten" zu veröffentlichen, gleichzeitig jedoch gibt er bisweilen auch zu, ein "Fragment einer Geschichte" unter seinen Papieren gefunden zu haben, von dem er nicht weiß, "woher [er] es bekommen habe, oder ob es vielleicht in einem Buche vollständiger vorkömmt".

Alexander Kosenina, Professor für deutsche Literatur an der Universität von Bristol, hat 25 der insgesamt 47 Biografien aus den vier Bänden der "Biographien" ausgewählt und mit einem instruktiven Nachwort versehen, das Spieß vor den Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion über den Selbstmord stellt. Galt der Selbstmord manchen als Sünde, gar als Verbrechen, ordnet Spieß ihn eher als Krankheit ein; eine Krankheit, deren Verlauf er anschaulich skizzieren will, deren Einordnung er aber schließlich doch dem Publikum überlässt.

Am Ende seiner Sammeltätigkeit scheint Spieß' Anspruch, belehrend wirken zu wollen, allerdings weit hinter den zurückgetreten zu sein, Vergnügen zu bereiten: Der vierte Teil der "Biographien der Selbstmörder" fällt qualitativ auffällig ab, sodass die Autorschaft Spieß' durchaus bezweifelt werden mag. Statt der Selbstmörder aus Liebe oder Armut finden sich hier denn auch vor allem Geschichten über "Selbstmörder aus Amtsverlust", "Authorverbrechen" oder "heiliger Schwärmerey". Der Versuch, die Motivation der Tat zu verstehen, wird abgebrochen.


Titelbild

Christian Heinrich Spieß: Biographien der Selbstmörder.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
271 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3892448647

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