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Jessica Durlachers Palästina-Drama "Emoticon" lotet die Grenzen zwischen Täter und Opfer, Freund und Fremdem, Patriot und Terrorist aus

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der niederländische Regisseur Theo van Gogh hatte einen Erzfeind: seinen Landsmann, Autor Leon de Winter. In dessen Bestsellern tauchen immer wieder Holocaust-Bezüge und Kommentare über die Politik Israels auf, de Winters Judentum spiegelt sich in seinen Figuren. Van Gogh hielt das für Selbstzweck und Effekthascherei. Er polemisierte, de Winter könne wohl nur mit seiner Frau schlafen, wenn er vorher seinen Penis mit Stacheldraht umwickelte. Und später, beim Orgasmus, würde er dann wohl "Auschwitz! Auschwitz!" jauchzen.

Was ihm Jessica Durlacher darauf entgegnen würde, ist nicht überliefert. Die 45-Jährige ist Tochter eines KZ-Überlebenden, erfolgreiche Autorin - und de Winters Ehefrau. Auch ihre Romane kreisen um Holocaust und Erinnerung, Diaspora und den Palästinakonflikt. Und sie sind damit, van Goghs Ekelrhetorik zufolge, ebenso selbstzweckhaft und predigend wie die ihres Mannes.

Doch so niederträchtig van Goghs Attacke auch gewesen sein mag, berührt sie dennoch einen bedenkenswerten Punkt: Politik und Literatur können schnell eine ungesunde Dynamik entwickeln. Etwa wenn Figuren platt und leblos bleiben, als bloßes Sprachrohr des Autors fungieren. Oder wenn dürre Plots so dick mit tagespolitischen Reizthemen ummantelt werden, bis das Feuilleton nicht mehr umhin kann, den ganzen Kuddelmuddel in viel zu langen Artikeln PR-trächtig zu entwirren. Das Etikett "wichtig" jedenfalls darf nicht zwangsläufig ein Kriterium für Literatur sein. Denn zu oft überlagert es Handlung und Figuren, reduziert einen ganzen fiktionalen Kosmos zur Illustration von dürftigen "Wort zum Sonntag"-Thesen. Wer Romane als bittere Pillen betrachten will, als verpflichtenden Impfstoff gegen Ignoranz, der hat es verdient, sein Leben lang nur auf staubtrockenem Prosa-Knäckebrot wie Gudrun Pausewang oder Ingo Schulze herumzukauen.

"Emoticon", Jessica Durlachers dritter Roman, balanciert auf genau diesem Grat: ein wichtiges Buch? Oder doch vor allem ein wichtigtuerisches? Die Exposition jedenfalls klingt arg nach Reißbrett: Ester, einzige Tochter eines KZ-Überlebenden, ist besessen vom Holocaust, von Israel, von ihrer ererbten Opferrolle. Die Niederländerin ist 36, kinderlos und erforscht Kriegstagebücher an der Universität, als man sie auf eine Konferenz nach Tel Aviv einlädt. Kaum hat sie das Restaurant, in dem der Begrüßungsempfang stattfindet, verlassen, explodiert eine Bombe: ein Terroranschlag der Palästinenser.

Ester fängt an, ihre pro-israelische Haltung stärker zu hinterfragen. Langsam beginnt sie, sich auf allen Ebenen - als frischgebackener Single kurz vor der Midlife-Crisis, als Tochter eines Holocaustopfers, als Akademikerin und als "Halbjüdin" - neu zu definieren. Dabei entfernt sie sich nicht nur immer weiter von ihrer Vergangenheit, sondern auch von Lola, ihrer besten Freundin. Mit 18 arbeiteten die beiden für einige Wochen in einem Kibbuz, und kurze Zeit später wurde Lola schwanger. Jetzt, 2001, lebt Lola ein gutbürgerliches Leben in Haarlem, schweigt sich gegenüber ihrem mittlerweile 16-jährigen Sohn Daniel über dessen Vater aus und ist undifferenzierte Befürworterin Israels. Ester steht Lolas Welt mit einer Mischung aus Neid und Befremdung gegenüber, doch erst als sie Rückschau auf ihre gemeinsame Jugend und all die verschütteten Gefühle zwischen ihnen beiden hält, wird Ester klar, warum.

Ester und Lola sind "schlechte gute Freundinnen". Von ihrem Judentum abgesehen haben sie überraschend wenig miteinander gemein; auch deshalb wirkt ihr Konflikt ein wenig schablonenhaft. Umso mehr, weil Durlacher kaum beschreiben kann, ohne sofort auch zu abstrahieren und zu vergeistigen: dem Israel und den Niederlanden ihres Romans fehlt es an Farbe, an Plastizität. Alles wirkt ein wenig windschief und unangenehm diffus: als sei die Gegenwart nur Kulisse, damit Ester und Lola nicht im luftleeren Raum stehen, während sie viel reden und noch mehr verschweigen und sich alles um große, abstrakte Begriffe dreht: "Identität", "Schuld", "Entfremdung": "Warum und was [Esters Exfreund Phillip an ihr] geliebt hatte, hatte sie nie genau verstanden. Man liebte Menschen, die lachten, die ganz in irgendeiner Aktivität aufgingen, die etwas Eigenes und Besonderes an sich hatten, etwas, was sie selber gar nicht registrierten. [... doch Ester] selbst dachte so viel über sich nach, dass es einem Wunder gleichkam, wenn etwas blieb, was sie nicht registriert hatte. Was war noch an Unbewusstem, Unschuldigen, Unbetretenem zu sehen, wenn Ester in sich hineinblickte und Philip oder Raf auf die in sich hineinblickende Ester blickten? Was oder wer war Ester, außer einem beobachtenden Blick?"

Gute Frage - zieht sie sich doch durch die komplette Personage von Durlachers Roman: Was oder wer sind diese Leute? Sollen, wollen, können sie mehr sein als bloße Stellvertreterfiguren verschiedener Seiten des großen Israel-Diskurses? Denn auch der parallele Handlungsstrang, der zwei weitere Hauptfiguren etabliert, schlägt in diese Kerbe: Daniel, Lolas Sohn, ist ein naiv-sympathischer Teenager, der nach einer enttäuschenden ersten Liebe bei der israelischen Armee anheuern will. Seine palästinensische Chatpartnerin Aischa ist Mitte 20, arbeitet als Journalistin und stolpert immer wieder über ihre engstirnig-fundamentalistischen Handlungen. Daniels blinder Zionismus befremdet Aischa, macht sie langsam immer wütender. Doch davon weiß der Junge noch nichts: Er hält Aischa für eine orthodoxe Jüdin...

Fast 500 Seiten und mehrere Hin- und Rückflüge in den Nahen Osten braucht Jessica Durlacher, um diese vier Figuren durch den Frühling des Jahres 2001 zu begleiten. Und ganz langsam, während die Handlungsfäden Schwung aufnehmen, sich mitunter überraschend kreuzen, gerät die Frage danach, wie sehr "Emoticon" eher Israel-Kritik (oder -Propaganda?) als erzählende Literatur ist (oder sein will?), in den Hintergrund. Stattdessen werden andere Fragen immer wichtiger: Ist Ester, mit all ihren Bezügen zu Durlachers eigener Historie, ein bloßes Stand-in der Autorin? Ist Lola, die ihren halbwüchsigen Sohn der Obhut der Armee überlässt, zu simpel gestrickt? Ergibt es Sinn, dass sich zwei niederländische Sechzehnjährige bei ihrem ersten Mal über "Die blaue Lagune" unterhalten oder hat Durlacher da die Medienerfahrung ihrer eigenen Generation auf viel zu junge Figuren übertragen? Wie soll man Daniels routinierten Umgang mit Partydrogen einordnen? Und: Ist Aischa, die vom Bruder misshandelte Steinewerferin aus dem Westjordanland, die jeden Samstag im Internetcafé sitzt und Mails in die ganze Welt verschickt, ein glaubwürdiger Charakter?

"Emoticon" ist kein warmer, einladender Roman. Und gleichzeitig fehlt ihm das stilistische und kompositorische Bravado und die diskursive Spannbreite, um als kühles Ensemble-Drama à la "Short Cuts" oder "L.A. Crash" zu funktionieren. Aber während man noch rätselt, ob Durlachers Buch jetzt eher die Epik des Gesellschaftsromans oder eine überzeugende Liebesgeschichte fehlt, ob es zu viele oder zu wenige Figuren, Zufälle oder politische Standpunkte gibt, ob die Figur des Daniel Ester verdrängt oder Aischa Lola die Show stiehlt oder doch umgekehrt, bohrt sich "Emoticon" langsam und mit beklemmender Stetigkeit immer tiefer hinein in seine Themen, seine Figuren - und in den Kopf des Lesers.

Keine Frage: Müsste man an diesen Roman herangehen wie an ein Gericht, das man für einen Restaurantführer kritisieren soll, man könnte kaum mit einer Empfehlung enden. Das Handlungskonstrukt ist zu verkopft, die Sprache zu technisch und abstrakt, zu vieles wirkt erzwungen oder amateurhaft (etwa bei der Sex-Szene gleich am Anfang, als sich ein Tischler in Ester festschraubt). Doch während man immerzu abwägt, ob jetzt der Salzgehalt und die Temperatur stimmen, ob die Soße passt und mit dem Fleisch harmoniert, isst man, ohne es richtig zu bemerken, immer weiter. Am Ende ist der Teller leer, und der Rezensent, wenn auch nicht restlos zufrieden, so doch zumindest angenehm satt. Denn eines jedenfalls ist Jessica Durlachers Roman zum Glück nicht: trocken-lebloses Polit-Knäckebrot.

Trotzdem sind es vor allem die nachdenklich-differenzierten Passagen Esters, jene eher stillen, unspektakulären Reflexionen, für die sich Durlacher nicht erst in die politisch extremen Standpunkte fremder Figuren hineindenken musste, die letztlich am stärksten überzeugen. Und deshalb sind die Daniel- und Aischa-Subplots, bei aller löblichen politischen Bandbreite, die sie "Emoticon" verleihen, auch eher als (leidlich geglückter) Versuch Durlachers zu werten, genau das zu tun, was Theo van Gogh bei ihrem Mann vermisste: über den Tellerrand hinauszublicken.

Wirklich lesenswert an "Emoticon" ist jedoch vor allem genau dieser Tellerrand: die Barriere zwischen dem Eigenen und dem Fremden, das ständig tastende, reflexive Neu-Ausloten des Selbst in einer immer komplizierter werdenden Welt, das die jüdische Literatur so interessant (und, nein: eben nicht "wichtig"!) macht. Und deshalb ist es auch nicht weiter schlimm, dass es unter den Töchtern und Enkelinnen des Holocaust zwar reihenweise spannende Autorinnen gibt - Barbara Honigmann, Lilly Brett, Siri Hustvedt, Nicole Krauss -, aber eben keine große Erzählerin.

Egal: alles, was bei "Emoticon" (und nicht nur dort) noch von außen dazukommt - der komplexe Plot, die nicht-autobiografischen Figuren, der tagespolitische Überbau - ist eher störend als bereichernd. Und wer dennoch so beschränkt sein will, von jüdischer (und nicht nur: jüdischer) Literatur vor allem Polit-Gewese, breite Epik und kühle Distanz zu fordern, der wird "Emoticon" wohl eh nur lesen können, wenn er ihn vorher in eine Tageszeitung eingewickelt hat. Und dann wird er Seite für Seite nach erhobenen Zeigefingern durchkämmen. Und an zwei, drei Stellen überglücklich "Pausewang! Pausewang!" jauchzen.


Titelbild

Jessica Durlacher: Emoticon. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
480 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3257065159

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