Volkstümlicher Horror
Fritz Lichtenhahn liest Jeremias Gotthelfs "Die schwarze Spinne" als Heimatgeschichte
Von Rainer Zuch
Die Werbung ist falsch. Der Hörbuch Verlag Hamburg preist "Die schwarze Spinne", eine Lesung des Schauspielers Fritz Lichtenhahn von Jeremias Gotthelfs berühmter Novelle, auf der Rückseite der CD-Hülle als "schlechthin [den] Thriller" an. Das sind nun zwei Fehler auf einmal. Zum einen zielt "schlechthin" auf eine plump-diffuse paradigmatische Positionierung, zum anderen versucht sie dies im verkehrten Genre. Abgesehen von dem Umstand, dass Gotthelf den "Thriller" natürlich weder als Begriff noch als literarisches Genre kennen konnte, hätte er sich vehement gegen eine solche Verortung verwahrt, wenn sie ihm hätte begegnen können.
Nun könnte man - abgesehen von werbestrategischen Gründen - mit gutem Grund auf ein in mehr als anderthalb Jahrhunderten enorm verändertes Rezeptionsverhalten hinweisen, um eine solche Bewertung zu rechtfertigen. Und in der Tat weist die Geschichte Elemente auf, die sie über Gotthelfs milde konservativen, christlich-volkspädagogischen Anspruch schweizerischer Prägung hinausheben und sie mit literarischen Kontexten in Verbindung bringen, die der Autor wahrscheinlich gar nicht beabsichtigt hatte.
Aber der Reihe nach. Der 1797 als Sohn eines Schweizer evangelischen Pfarrers geborene Albert Bitzius, so Gotthelfs bürgerlicher Name, war ein sozial engagierter Theologe und Gemeindepfarrer mit gemäßigt liberalen, volkspädagogischen Ambitionen. Seine recht spät einsetzende schriftstellerische Arbeit stellte er in den Dienst seines christlichen Bildungsverständnisses und seiner Verbundenheit mit der heimischen Welt der Berner Landbevölkerung, was ihn zu einem frühen Vertreter des Schweizer Realismus werden ließ.
Zu den Texten, in denen er eine biedermeierliche und protestantische Ethik mit sozialpsychologischem Scharfsinn und genauen Beobachtungen heimischer Sitten und Gebräuche kombinierte, gehört auch die 1843 verfasste Novelle "Die Schwarze Spinne". Dass er sie im Rahmen schweizerischer Heimatdichtung verortete, lässt sich daran ablesen, dass er sie im Rahmen einer sechsbändigen Reihe "Bilder und Sagen aus der Schweiz" herausgab.
Die Erzählstruktur gibt einen ersten Hinweis darauf, dass "Die Schwarze Spinne" in einer romantischen Erzähltradition steht, genauer: in der Geschichte der europäischen Schauerromantik ihren Platz finden kann: Das Hauptstück nimmt eine Erzählung innerhalb der Erzählung ein. Rahmenhandlung ist eine Kindstaufe im bäuerlichen Milieu des Emmentals, in deren Verlauf der Großvater als Angehöriger einer traditionsbewussten Generation die Legende von der Schwarzen Spinne erzählt. Es ist die Geschichte eines mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Pakts der örtlichen Bauernschaft mit dem Teufel, um Hilfe bei den vom adeligen Grundherrn verlangten schweren Frondiensten zu erhalten. Als der Teufel um seinen Lohn - ein ungetauftes Kind - betrogen wird, rächt er sich furchtbar in Gestalt einer todbringenden schwarzen Spinne, die erst durch das selbstlose Opfer der Mutter des versprochenen Kindes ausgeschaltet werden kann.
Die Moral von der Geschicht' scheint recht klar zu sein: Wer sich mit dem Teufel und der Sünde, sprich: der Welt einlässt, kommt darin um, und zwar auf unschöne Art und Weise. Gotthelf verstreute im narrativen Verlauf immer wieder belehrende Passagen, in denen er das Verhalten seiner Protagonisten von der Warte des Landpfarrers und Pädagogen aus kommentiert, der zu Gottesfurcht und ehrbarem Lebenswandel aufruft. Zudem geht die Gefahr nicht allein vom Teufel, sondern auch vom Weibe aus, welches nach christlich-konservativer Denkweise schon immer dem Teufel näher stand als der Mann - schließlich war es Eva, die den Apfel von der Schlange entgegennahm.
Gotthelf verwob geschickt magischen Volksaberglauben mit christlichen Lehrinhalten und realistischer Schilderung der bäuerlichen Welt, indem er die Legende in Gestalt eines Fensterpfostens, in dem die Spinne bis heute gefangen sei, in die Gegenwart der Rahmenerzählung hineinragen lässt - merke: nicht nur die Legenden wirken weiter, auch das Böse stirbt nie, es schläft nur und lauert auf den Unvorsichtigen, der es erneut freisetzen wird.
Eben diese traditionellen und religiös motivierten narrativen Elemente ließen "Die schwarze Spinne" zu einer Inkunabel der europäischen Schauerromantik des 19. Jahrhunderts werden. Ob man für die deutsche Tradition E.T.A. Hoffmann oder Friedrich de la Motte-Fouqué nennt oder auf die gothic novels von Charles Maturin, Mary Shelley oder M. G. Lewis verweist, immer wieder geht es um eine religiös motivierte Vorstellung des Bösen, welches am Ende nur scheinbar besiegt ist, in Wirklichkeit aber weiter wirkt und als Strafe für Selbstüberhebung und abweichendes Verhalten zum Einsatz kommt. Dieser Konservatismus des Schauerromans ist bis in die Tradition der Horrorgeschichte des 20. Jahrhunderts und schließlich des Films spürbar, was heutzutage wohl in der amerikanischen Variante mit seiner puritanischen Unterströmung besonders deutlich formuliert wird - Wes Craven gab mit seiner ironischen "Scream"-Serie den wohl populärsten Kommentar des letzten Jahrzehnts dazu ab.
Gotthelfs Novelle zeigt in seltener Deutlichkeit, wo dieser Konservatismus seine Wurzeln hat, denn sie greift das romantische, historisch und ethnologisch motivierte Interesse an Volkskunde, Sagen und Märchen sowie die Suche nach einer an religiösen Werten orientierten Lebensordnung auf. Doch zugleich schließt er in seinen atmosphärischen Entwürfen der Reaktion der Natur auf das Wirken des Bösen, den drastischen und psychologisch durchdachten Schilderungen des auf die Erzeugung von Todesangst angelegten Vorgehens der Spinne und den eingestreuten Reflexionen der Erzählstruktur an narratologische Neuerungen der romantischer Literatur an, sodass das Werk des Schweizer Volksdichters von der Ambivalenz der aufkommenden Moderne zeugt.
Fritz Lichtenhahn kommt das Verdienst zu, in seiner Lesung die traditionellen Grundlagen der Erzählung zum Tragen kommen zu lassen und sie nicht auf einen "Thriller" oder eine Schauergeschichte mit bäuerlichem Ambiente zu reduzieren. Zugleich gelingt es ihm, ihre große Dramatik voll zur Geltung zu bringen. Der Umstand, dass er selbst Schweizer ist, dürfte als Authentifizierungsstrategie zum Gelingen des Hörbuchs maßgeblich beigetragen haben. Neben aller kunstvoll vorgetragenen Dramatik schlägt er einen adäquaten volkstümlichen und belehrenden Ton an, der einer Volkslegende wohl ansteht; man glaubt, den erzählenden Großvater vor sich zu haben. Dass es aber ein Hörbuch ist, welches die orale Tradition der Legendenüberlieferung "vor Ohren" führt, ist nun tatsächlich ein Hinweis darauf, wie sehr sich Hör- und Rezeptionstraditionen verändert haben.
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