Historiker auf Abwegen

Christian von Ditfurth wühlt im dunklen Vermächtnis der 68er

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wer ist der Hauptfeind des Historikers. Der Zeitzeuge", doziert Joseph Maria Stachelmann, wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar in Hamburg, und tappt prompt in eine geschickt konstruierte Zeitzeugenfalle. Denn Christian von Ditfurths akademisch gebildeter Amateurdetektiv jagt in seinem nunmehr dritten Fall den Schatten seiner eigenen Vergangenheit hinterher. Allerdings verliert er sich dabei lange Zeit im Dunkel haltloser Hypothesen und zweifelhafter Verdächtigungen, bevor er sich auf den letzten Seiten den passenden Reim auf das Verbrechen machen kann.

Der mysteriöse Freitod von Kriminalkommissar "Ossi" Winter, seinem langjährigen Freund, weckt Erinnerungen an die gemeinsame, pseudorevolutionäre Studentenzeit gegen Mitte der 70er Jahre. Vor allem aber machen Stachelmann die Akten eines damals unaufgeklärten Mordes stutzig, die Ossi kurz vor seinem Ableben noch durchgeblättert haben muss. Er glaubt nicht an die Selbstmordthese der Polizei. Er glaubt an einen Zusammenhang zwischen Ossis Tod und dem Mord aus vergangenen Zeiten.

Psychogramm eines seelisch labilen Akademikers

Stachelmann lässt also wieder einmal alles stehen und liegen, um sich ganz und gar der Verbrechensaufklärung zu widmen. Aber auch den wichtigen Entscheidungen in seinem Privat- und Berufsleben aus dem Weg zu gehen. Seine Habilitationsschrift muss beendet und seine Beziehungs- und Familienprobleme geklärt werden. Denn die privaten wie beruflichen Konflikte nagen schon seit dem ersten Fall ("Mann ohne Makel") an seinen Nerven. Auch jetzt lassen sie ihn wieder in tiefe Depressionen fallen und an etlichen Selbstzweifeln leiden. Ditfurths Krimis liefern nämlich über das reine Spannungsmoment hinaus immer auch das Psychogramm eines seelisch labilen Akademikers.

Und in diesem Fall ist die seelische Not gleich doppelt groß, weil Stachelmann seine Heidelberger Studentenzeit aufarbeiten will, in der er mit Ossi zusammen für eine gerechtere Welt agitiert hat. Marx, Che Guevara und Ho Chi Minh hießen die Säulenheiligen, in deren Namen er so manch politische Dummheit verzapft hat. Manche Aktivisten nahmen die ideologische Sendung allerdings so ernst, dass sie möglicherweise auch zu einem Fememord bereit waren. Zumal wenn einer von ihnen Geheimnisse an den Verfassungsschutz ausgeplaudert haben soll. Wie angeblich Joachim Lehmann, der mit einem Genickschuss hingerichtet und dessen Mörder nie gefasst wurde. Vielleicht war Ossi ihm nach dreißig Jahren so dicht auf den Fersen, dass er dafür mit dem Leben bezahlen musste. Vielleicht war Ossi sogar selbst daran beteiligt und hat deswegen den Freitod gewählt. Auf diese Fragen versucht Stachelmann, Antworten zu finden - nicht zuletzt, um auch seine eigene Position in dieser Sache zu finden.

Übersehene Fährten

Dafür begibt er sich auf Spurensuche in die romantisch verklärte Universitätsstadt Heidelberg am Neckar, wo er ehemalige Kommilitonen aushorcht, Zeitungs- und Universitätsarchive durchforstet und Fotos von Lehmann und seinen Freunden auf entsprechenden Demos findet. Die gesammelten Spuren führen ihn bis in die Toskana und damit in die Nähe der potenziellen Täter. Nur nachweisen kann er ihnen nichts, und Ossis Tod bleibt nach wie vor rätselhaft, sodass Stachelmann schon fast bereit ist, aufzugeben und sich wieder in seine akademische Arbeit zu stürzen. Wäre da nicht ein bislang übersehenes Detail, der Ossis Selbstmord in ein neues Licht rückte und diesmal handfeste Beweise lieferte. Um diese aber erbringen zu können, geht der sonst so zögerliche Stachelmann ein fast tödliches Risiko ein.

Auch wenn Stachelmanns Geistesblitz am Schluss etwas sehr überraschend und brachial einschlägt, hat Ditfurth doch die bis dahin gelegten Fährten geschickt ausgelegt. Die Obsession, mit der sie sein manchmal allzu menschlicher Titelheld verfolgt, macht jeden seiner Schritte und Gedankengänge glaubhaft. Spannung erzeugen aber nicht nur die Ermittlungen des sturen Historikers und die immer wieder eingestreuten Tagebuchaufzeichnungen des Täters, sondern auch Stachelmanns persönliches Schicksal. Wird er seine Habilschrift rechtzeitig und vollständig korrigiert abgeben? Wird er die Beziehung zu seiner Freundin Anne und zu seiner krebskranken Mutter sanieren können? Oder reift vielleicht im nächsten Roman sein Entschluss, den Job als Geschichtsprofessor sausen zu lassen und zur Kripo zu gehen? Die Grenzen zwischen beiden Berufen sind ja anscheinend fließend, wie der studierte Historiker Ditfurth mit viel Fach- und Milieuwissen erneut unter Beweis gestellt hat.


Titelbild

Christian von Ditfurth: Schatten des Wahns. Stachelmanns dritter Fall.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
394 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3462037099

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