Verstörende Innenansichten

Susanne Fischers Roman "Die Platzanweiserin" handelt von der menschlichen Liebe zu Häusern

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen verstörenden Roman legt die 1960 in Hamburg geborene Autorin Susanne Fischer mit "Die Platzanweiserin" vor. Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin Christina Genthe, Anfang dreißig, ruhelos, auf Distanz zu den Mitmenschen, mit einem Hang zu AußenseiterInnen, unfreiwillige Pflegemutter von Max, dem vernachlässigten Kind ihrer Nachbarin. Nirgends kann sie länger bleiben, weder bei Menschen noch in einem Beruf. Nur Platzanweiserin war sie mal über eine gewisse Zeit, sie konnte im Dunkeln bleiben, das passte ihr, das war die Form von Nähe, die ihr erträglich war. Dem Freund ist dieser Job etwas unangenehm, so gibt sie ihn auf, erst den Job, dann Frank. Was aber tut diese Frau den ganzen Tag? Sie schaut sich Häuser alter Menschen an, Häuser, die ein Leben haben. Auf diesen Touren begleitet sie der kleine Max, er findet Freunde in den Häusern, wie etwa die Kröte, die ihm lieber als alle Menschen ist.

Die Häuser sind es, die Christina Genthe anziehen, die Häuser haben Gefühle, sie sind traurig, wenn sie verlassen werden. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt: "man könnte sich die Häuser schließlich auch glücklich denken; endlich werden sie den säuerlichen Geruch der Alten los". Doch die Häuser müssen "sich erst mal erholen". Häuser sind hier Verletzte, wie Menschen Verletzte sind. Christina hat sich zurückgezogen, um nicht länger verletzt zu werden. Sie entzieht sich, will nur den kleinen Max in ihrer Nähe, findet Verständnis für die verwirrten Alten, die den Übertritt ins Altenheim nicht schaffen, und distanziert sich von Gleichaltrigen. Denn wenn sie sich einlässt, trifft sie bestimmt auf jemanden, der noch mehr durcheinander ist als sie. So wie Thomas, der sich nicht mehr zurechtfindet, seit seine Schwester Rita verschwunden ist, und das ist Jahre her. Thomas setzt alles daran, die Spur von Rita, einer Schulfreundin von Christina, zu finden. Seinen Anforderungen kann sich Christina kaum widersetzen. Mit Thomas begibt sie sich auf eine Irrfahrt; er führt sie in ein dubioses Haus an der Elbe, ihm ist es eine Genugtuung, wenn sich Christina verliert und in Verzweiflung gerät. Er ist nicht der Beschützer, er braucht vielmehr selbst Schutz, da er sich längst in der Suche nach der verschwundenen Rita verloren hat.

Rita war damals das Mädchen, das Christinas Eltern als Freundin gerne gesehen hätten, und nicht Tamara, "ein Verliererkind. Meine Eltern, gute Mittelklasse-Eltern mit einem einzigen Kind und einer Geschmack beweisenden Einbauküche, haßten sie erstens instinktiv und dann zweitens auch noch aus Gründen. Sie hätten mich lieber mit Rita zusammen gesehen. Hätten sie es nicht getan, ich glaube, ich hätte Tamara schnell wieder im Stich gelassen." Auch Tamara taucht wieder auf, mit mehreren Kindern von mehreren Männern. Vielleicht war es doch besser, dass sich Christina dann wieder von Tamara entfernt hat.

Christina weiß, warum sie sich von den Menschen fernhalten muss, denn kommt sie ihnen näher, ist sie gleich verloren. Sie kann sich nicht abgrenzen. Da ist der kleine Max anders, wie auch Häuser anders sind. Häuser sind zuverlässiger. Sie haben ihre Geschichte, doch sind sie nicht vereinnahmend. Häuser haben ihren Platz, Menschen müssen sich einen solchen erst suchen. Christina versucht sich dem zu entziehen, indem sie sich auf Distanz hält. Doch ist dies für sie auf Dauer nicht möglich. Denn da tritt ein anderer Mann auf, Paul, auch der Leuchtturm genannt, der sie aus ihrer Reserve locken kann. Er versteht nicht, was Christina meint, wenn sie sagt, das Haus sei böse, aber das bringt ihn nicht durcheinander. Auf seine Frage, wie denn ihr Haus sein sollte, weiß Christina keine Antwort. Nur die Frage: "Wie musste ein Haus aussehen, in dem ich mir nichts ausmachte?" Das ideale Haus ist ein Ort, wie ihn etwa Hopper gemalt hat. Mit der Assoziation von Hoppers Bildern endet schließlich auch der Roman. "Hopper", sagt Christina, "mir fällt eins wieder ein. Ein Bild, meine ich. [...] Da ist nichts, es ist ein perfektes Haus, es steht in einer Wiese, die wie ein gelber Teppichboden aussieht, alle Rollos hängen im waagerechten Licht Halbmast. Und sonst nichts. Kein Mensch, kein Blumentopf, kein Kinderspielzeug, das liegen blieb, kein Gemüsebeet, keine Lampe, kein Verandastuhl, kein Briefkasten, keine Klingel, kein Fußabstreifer. Nichts. Ein Außerirdischer könnte nicht ahnen, wozu das Ding gut sein soll." Paul versteht Christina nicht, doch er legt seinen Arm um sie.

Susanne Fischer erzählt in ihrem Roman "Die Platzanweiserin" temporeich und mit einer faszinierend knappen Sprache, die rasch in ihren Bann zieht. Dabei ist es weniger die manchmal ziemlich verwirrende Handlung, die bewirkt, dass man das Buch nicht so bald wieder aus den Händen legt, sondern vielmehr die überzeugende Figurenzeichnung: Mit nur wenigen Strichen entstehen Bilder von Christina, Max, Paul und Thomas. Es sind Menschen, die in ihrer Verlorenheit quasi nackt dastehen. Ihnen können auch die Häuser keine Heimat bieten.


Titelbild

Susanne Fischer: Die Platzanweiserin. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
191 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3821857552

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