Prekäres Entdeckertum

Gunther Nickel fragt nach der Krise des Lektorats und gibt zehn Insider-Einschätzungen zur Lage eines wandelbaren Berufs heraus

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was genau ist die Aufgabe eines Lektors? Auf der Leipziger Buchmesse 2005 versuchten zehn Profis, anlässlich eines Symposions der Deutschen Literaturkonferenz Antworten auf diese Frage zu geben. Gunther Nickel hat im Wallstein Verlag einen schmalen Band herausgegeben, in dem die Leipziger Diskussionspartner ihre Sicht der Lage nun noch einmal schwarz auf weiß kundtun.

Dieter Wellershofs Erinnerungen an seine Lektoratszeit im Verlag Kiepenheuer & Witsch eröffnen den Band und ziehen den Leser sofort in ihren Bann. Kein Wunder: Hier verfasst jemand ein Stück Autobiografie, der es vor Jahrzehnten geschafft hat, über den Journalismus und die Lektoratspraxis den Sprung ins Schriftstellerleben zu bewerkstelligen. Mit anderen Worten: Der Mann kann schreiben. Sein Bericht liest sich angenehm unaufgeregt und nüchtern - aber seine Anekdoten aus den 50er-, 60er- und 70er-Jahren klingen für den heutigen Leser auch ein bisschen wie alte Märchen aus einer anderen, besseren Welt.

Denn das Fragezeichen im Titel des Bands ist von Nickel nicht umsonst gesetzt worden. Wellershoff hatte noch das Glück, 1959 von dem Verleger Joseph Caspar Witsch just zum Zeitpunkt einer persönlichen finanziellen Krise aufgefordert zu werden, sein Lektor zu werden und für seinen Verlag eine wissenschaftliche Abteilung aufzubauen. Wenn er nun in seinem Text von den beruflichen Belastungen erzählt, die es ihm nach seinem Berufseinstieg lange schwer machten, selbst mit dem literarischen Schreiben zu beginnen, so können heutige Kollegen über derlei Klagen wahrscheinlich nur noch müde lächeln.

Denn längst beschäftigen sich Verlagslektoren im Alltag fast schon mehr mit Finanzkalkulationen als mit konkreter Literatur - also der besonnenen und diplomatischen Beurteilung und Verbesserung eingesandter und angenommener Manuskripte, die früher diesen Literaturwissenschaftler-Traumjob noch hauptsächlich ausmachte. Die Ziele des Berufstands haben sich heute um viele profane Aufgaben erweitert: Man muss die Texte längst nicht mehr bloß brav lesen und einige Korrekturzeichen an den Rand malen, um hinterher irgendein feinsinniges Gutachten zu verfassen, einen Vertrag zu formulieren oder sich mit dem Autor auf einen gemütlichen Kaffee zu treffen und Änderungsvorschläge mit ihm zu diskutieren. Nein: Mittlerweile muss man auch nicht mehr 'nur' ein extrem belesener und kontaktfreudiger Mensch, sondern überhaupt ein Multitasking-Talent sondergleichen sein, sich mit der stets allerneuesten Software auskennen und Druckvorlagen erstellen, pausenlos als gewiefter PR-Agent umherreisen und sowieso unappetitliche Begriffe wie "Cashflow", "Rentabilitätskennzahlen", "Eigenkapitalquote" oder gar "Kosten- und Ergebnistreiber" verstehen, wie Nickel bereits in seinem kurzen Vorwort unheilsschwanger anzudeuten weiß.

Die Lektorin Momo Evers berichtet außerdem in ihrem Beitrag, dass der normale Stundenlohn eines freien Lektors heute um die drei Euro pro Stunde liege - "brutto, versteht sich". "Die Wertschätzung der Arbeit eines Lektors ist also erschreckend gering, wie sich an den Summen, mit denen sie entlohnt wird, deutlich zeigt", konstatiert Evers, die sich im Verband freier Lektorinnen und Lektoren engagiert. Diese zugespitze finanzielle Situation des Berufsfelds rühre nicht zuletzt daher, dass die meisten Verlage ihr Lektorat längst "outsourcen", weil sie selbst keinen fest angestellten Lektor mehr bezahlen können - beziehungsweise nicht mehr über genügend Arbeitskräfte verfügen, um alle Titel ihres Programms selbst gewissenhaft zu lektorieren.

Die Folge ist, dass der Beruf des Lektors längst prekär geworden ist und niemanden mehr so ernähren kann, wie es ein Dieter Wellershoff seinerzeit noch hatte erleben dürfen. Nebenher sogar auch noch eine eigene Autorkarriere voranzutreiben, wie es Wellershoff schließlich mit Erfolg gelang - das ist heute wohl überhaupt nicht mehr denkbar. Eher ist es im Gegenteil schon zum "Luxus" geworden, sich auf das gute, alte Buchlektorat zu konzentrieren und nicht sein Auskommen in der geistlosen und deprimierenden Werbungs- und PR-Branche suchen zu müssen.

Und doch gibt es immer noch oder schon wieder so etwas wie Hoffnung für das Metier des literarischen Lektorats, wie vor allem die Beiträge "junger Verleger" wie Daniela Seel von Kookbooks und Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag nahelegen. Ihre windschnittigen Kleinverlage fördern und publizieren Literatur abseits des wirtschaftlich rentablen Mainstreams.

Dazu gehört zweifellos ein gewisses spielerisches Draufgängertum und die genauso bekloppte wie heroische Bereitschaft, selbst für einen "Hungerlohn" dafür zu arbeiten, dass man den Spaß an der Literatur nicht verliert. Sundermeier etwa berichtet in seinem Beitrag mit dem sprechenden Titel "Was wir uns erlauben", wie sich er und seine Berliner VerlagskollegInnen nach wie vor mit Zweitjobs und Journalismus über Wasser halten - irgendwie immer noch darauf hoffend, vielleicht doch einmal mehr als 5000 Exemplare eines Titels zu verkaufen: "Wenn das geschieht, wird man weitsersehen."

Hier hat das Lektorat tatsächlich noch etwas vom Entdeckertum alter Tage - auch wenn diejenigen, die diese Vision zu realisieren versuchen, auf Dauer so leben wie eine an beiden Seiten angezündete Kerze: "Der Verbrecher Verlag ist bis heute kein Verlag, der Texte sucht, er findet sie", verkündet Sundermeier nicht ohne Stolz. "Ungefähr die Hälfte unserer Autorinnen und Autoren haben zuvor noch kein Buch publiziert. Wir animieren Autorinnen und Autoren, deren Texte uns in Zeitungen oder Anthologien aufgefallen sind, doch mal einen Buchvorschlag zu machen, nicht selten entsteht dann im Gespräch eine Idee von einem Buch."

Dazu gehört es dann allerdings auch, schmerzvoll mit anzusehen, wie junge SchriftstellerInnen, deren krude Texte einst niemand anderes publizieren wollte und derer man sich selbst ohne Rücksicht auf wahrscheinliche finanzielle Verluste annahm, plötzlich flügge werden und zu großen Verlagen abwandern: Dietmar Dath zum Beispiel veröffentlichte seinen ersten Roman "Codula killt Dich! oder Wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenheini. Roman der Auferstehung" (1995) im Verbrecher Verlag und ist mittlerweile nach Publikationen in diversen anderen Häusern ein viel beachteter Suhrkamp-Autor. Und Kathrin Passig, die 2006 gemeinsam mit Holm Friebe bei den Verbrechern die Kolumnensammlung "Das nächste große Ding" veröffentlichte, gewann dieses Jahr überaschend den Ingeborg-Bachmann-Preis plus Publikumspreis und kündigt ihr nächstes Buch bereits bei Rowohlt an.

Nickels Aufsatzsammlung ist jedenfalls mit dieser Bandbreite an Perspektiven ein Buch, das jeder lesen sollte, der sich für den Beruf des Lektors interessiert - oder ihn sogar schon in irgendeiner Weise ausübt. Auch (angehenden) Autoren ist die Kenntnisnahme der Realität auf der 'anderen Seite', der sie ihre Texte so hoffnungsvoll anbieten, zwecks Vermeidung allzu großer Enttäuschungen sehr anzuempfehlen.


Titelbild

Gunther Nickel (Hg.): Krise des Lektorats?
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
131 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 383530061X

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