Das Nachleben der Ideen

Yuh-Dong Kim über die Rezeptionsgeschichte von Walter Benjamins Trauerspielbuch

Von Sabine BertholdRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Berthold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rezeption von Walter Benjamins "Ursprung des deutschen Trauerspiels" war von Anfang an auch eine Geschichte der Missverständnisse, ja bisweilen selbst ein Trauerspiel - angefangen bei der Ablehnung der Habilitationsschrift bis hin zum Unverständnis der damaligen Barockforschung. Die seit den 60er-Jahren intensiv einsetzende Rezeption des Trauerspielbuchs hat indessen die Bedeutung und Reichweite eines Werks gezeigt, das in der Analyse der typologischen Struktur barocker Trauerspiele die Signatur einer durch Säkularisierungsprozesse gekennzeichneten Epoche darstellt - und nicht nur in dieser Hinsicht seine heutige Aktualität entfaltet. Die Karriere des Trauerspielbuchs verlief dabei von Anfang an zweigleisig zwischen Barock- und Benjaminforschung. Insbesondere die sprachphilosophischen Implikationen der Ideenlehre und die auf Säkularisierungsprozesse bezogene Immanenz-These führten zu Kontroversen, die Hans-Jürgen Schings zu dem Kompromiss-Vorschlag veranlasste: "Dann lieber: Benjamin den Benjaminforschern und die barocken Trauerspiele den Barockforschern".

Dieser Hiatus ist der Ausgangspunkt von Yuh-Dong Kims Dissertation, in der nicht nur die Rezeptionsgeschichte nachgezeichnet werden soll, sondern zugleich eine Vermittlung zwischen beiden Positionen angestrebt wird. Dabei intendiert die Studie, das "Trauerspiel als Ganzes" zu verstehen, nämlich aus der Perspektive der erkenntnistheoretischen Vorrede. Sie entscheidet sich zugleich dagegen, das Trauerspielbuch als Steinbruch für einzeln herausgelöste Fragmente zu nutzen - eine Praxis, die in der Rezeptionsgeschichte häufig anzutreffen war. Die Rekonstruktion dieser Geschichte legt folgerichtig einen Schwerpunkt auf die Rezeption von Benjamins Sprachphilosophie, etwa durch Winfried Menninghaus, der in den 80er-Jahren Benjamins "Denken in Konstellationen" sprachtheoretisch interpretierte und das Trauerspielbuch im Lichte der Ideenlehre Benjamins untersuchte. Damit lenkt Yuh-Dong Kim den Blick in fruchtbarer Weise auf den Kunst- und Werkcharakter des Trauerspielbuchs, in dem die Gedanken - im Gegensatz zu auf Totalität abzielenden Entwicklungserzählungen - mosaikhaft entfaltet werden. Gerade die Untersuchung des Verhältnisses von Fragment und Konstruktion scheint daher für die weitere Erschließung der immanenten Logik des Trauerspielbuchs ein sinnvoller Weg zu sein.

Yuh-Dong Kims im Anschluss an die Position Klaus Garbers formulierter Anspruch, das Trauerspielbuch in die gegenwärtige historisch-soziologische und konfessionspolitische Barockforschung einzubetten, wird in dieser Studie jedoch nur teilweise erfüllt. Vielmehr wird die Lesart der "Benjaminforschung" zitiert und der Fokus auf die Benjamin'sche Säkularisierungsthese sowie seine im Anschluss an Carl Schmitt formulierte Souveränitätstheorie gelegt. Konsequenter wäre es daher gewesen, in der Arbeit entweder von vornherein eine Lesart vorzuschlagen, die die Benjamin'schen Theoreme in den Vordergrund stellt. Oder aber umgekehrt das Trauerspielbuch radikaler in Hinblick auf seinen Gegenstand - das barocke Trauerspiel - zu analysieren und damit einen deutlicheren Bezug zur Barockforschung zu setzen. Dies wird zwar im dritten Teil der Studie in einer "raumbezogenen Lektüre des barocken Trauerspiels in Bezug auf das Trauerspielbuch" unternommen - die Methode einer gewissermaßen rückwirkenden Überprüfung der Benjamin'schen Theoreme anhand der barocken Trauerspiele mit dem Ergebnis einer Bestätigung der Thesen dürfte aber kaum zureichend für diese Aufgabe zu sein.

Jede Rezeptionsgeschichte ist auch eine Geschichte der offen gebliebenen Fragen und der Aktualität eines Werks. So ist Benjamins zentrales Theorem der "Janusköpfigkeit von Märtyrer und Tyrann", mit dem er die dialektische Kippbewegung der beiden Antagonisten beschreibt, erhellend für einen ganz anderen, aktuellen Diskurs, nämlich für die Untersuchung der Figur des Märtyrers im Kontext einer politischen Theologie. Die Figur des Märtyrers, so zeigen die aktuellen Debatten über Selbstmordattentate, ist eine Figur, die nicht nur religiös, sondern in hohem Maße politisch konnotiert ist. In Benjamins "Ursprung des deutschen Trauerspiels" wird die Dreiecksbeziehung von Märtyrer, Tyrann und Souverän in erhellender Weise auf die geschichtliche Situation eines religiös und politisch zerrissenen Jahrhunderts bezogen und als Ausdruck von Säkularisierungsprozessen gefasst. Die Figur des Märtyrers als ein politisches und religiöses Deutungsmuster, mit dem Ohnmacht in Macht umgedeutet wird - auch dies ist bereits in Benjamins Trauerspielbuch vorgezeichnet -, zeigt sich im aktuellen Zeitgeschehen in drastischer Weise, verstärkt durch die Bühne der neuen Medien.

Yuh-Dong Kims Arbeit zeichnet einen Querschnitt der Rezeptionsgeschichte des Trauerspielbuchs und gibt insbesondere über deren frühe Phase einen guten Überblick; in manchen Passagen wäre eine kritischere Auseinandersetzung mit den dargestellten Positionen sinnvoll gewesen, auch in Hinblick auf zukünftige Forschungsdesiderate und die Aktualität des Benjamin'schen Denkens. Eine Vermittlung zwischen Benjaminforschung und Barockforschung gehört dabei nach wie vor zu den Herausforderungen, die die Lektüre des Trauerspielbuchs bereithält.

Anmerkung der Redaktion: Sabine Berthold ist Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung.


Titelbild

Yuh-Dong Kim: Walter Benjamins Trauerspielbuch und das barocke Trauerspiel. Rezeption, Konstellation und eine raumbezogene Lektüre.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2005.
255 Seiten, 85,00 EUR.
ISBN-10: 3830019157

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