Übersetzung als Defiguration

Barbara Johnsons Revision von Walter Benjamins "Die Aufgabe des Übersetzers"

Von Cornelia WildRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cornelia Wild

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Status von Barbara Johnsons "Mother Tongues" ist prominent. Zu dieser Prominenz gelangte das Buch durch seine Leser Judith Butler und Jonathan Culler, die ihm Besprechungen widmeten, welche gleichsam als Hommage an Barbara Johnson zu lesen sind. In der Tat erweist sich "Mother Tongues" als eine Art Quintessenz des Denkens von Johnson, das hier in den Sujets von Geschlechterdifferenz und Mutterschaft, vor allem aber in der Frage der Übersetzung zusammengeführt wird. Obwohl die insgesamt acht Kapitel aus einzelnen, teilweise bereits publizierten Aufsätzen zusammengestellt sind, verbindet sie die Problematik der Übersetzung. Sie verdanken Walter Benjamins Aufsatz "Die Aufgabe des Übersetzers" nicht nur wichtige Einsichten, sondern umgekehrt decken die Untersuchungen Johnsons an Benjamin eine dekonstruktive Seite auf. In immer wieder neuen Zusammenstellungen von unterschiedlichsten Übersetzungssituationen - etwa die Übersetzungen der Fragmente Sapphos, des "Prozess'" Franz Kafkas oder Robert Lowells Baudelaire-Übersetzungen - führt Johnson vor, dass Benjamins Übersetzer-Aufsatz den Theoremen der Dekonstruktion, trotz der viel kritisierten messianischen Tendenzen, Vorschub leistet. Damit löst Johnson gewissermaßen ein, was bei Benjamin angelegt ist.

Übersetzung - das ist das an Benjamin geschulte Interesse Johnsons an ihrem Gegenstand - bringt die Frage nach dem Original, dem Einen und nach der Differenz ins Spiel. Schon bei Benjamin ist diese in der Aufgabe des Übersetzers angelegt: Sie besteht darin, das Original zu verändern. Übersetzung soll dessen "Wandlung und Erneuerung" bewirken. Johnson führt diesen Gedanken in ihrer Benjamin-Lektüre aus und verhilft ihm zu einer dekonstruktiven Pointe. Die Aufgabe des Übersetzers ist demnach nicht die Rehabilitierung der Einheit und des Originals, sondern im Gegenteil: die fortschreitende Auflösung dieser vorausgehenden Einheit. Doch diese ursprüngliche Einheit, die sich als Deckung von Signifikant und Signifikat qualifizieren lässt, ist indes selbst schon fraglich. Auch das ist eine der Benjamin vertiefenden Einsichten Johnsons: Denn dass überhaupt der Anschein einer Einheit entsteht, verdankt sich dem Akt der Übersetzung. Erst retrospektiv erscheint als Effekt der Übersetzung das Original als Einheit von Signifikant und Signifikat. Die Übersetzung wird zum entlarvenden Moment jenes Scheins ursprünglicher Einheit. Wie ein "Königsmantel in weiten Falten", hatte Benjamin geschrieben, umgibt die Übersetzung ihren "Gehalt", wohingegen im noch unübersetzten "Original" die "Einheit wie Frucht und Schale" gewahrt scheint.

Mit ihren Beobachtungen zu Benjamins Aufsatz, den dieser einst als Vorwort zu seinen Übersetzungen von Baudelaires "Tableaux parisiens" geschrieben hatte, knüpft Johnson an ihre frühe Studie über die Defigurationen lyrischer Sprache an. In neuer vertiefender Auseinandersetzung stellt Johnson in "Mother Tongues" die Frage nach der "precarious appearance of unity", die auch schon ihre "Défigurations du language poétique" (1979) geleitet hatte. Während sie dort gezeigt hatte, dass die Prosagedichte Baudelaires eine wiederholende und in dieser Wiederholung die Einheit des lyrischen Ichs entstellende Relektüre der "Fleurs du mal" sind, macht sie nun deutlich, dass auch der Arbeit der Übersetzung die Funktion einer defigurierenden Lektüre zukommt. Benjamins die simple Logik einer gleichsam natürlichen Folge von Original und Übersetzung umkehrenden Schlüsse liefern Johnson für das Wiederaufgreifen der Problematik die entscheidende Figur: Das Original geht nicht der Übersetzung voraus, sondern wird post translationem erzeugt. Darin gelangt es zu einem späten Ruhm qua Übersetzung; - einen Effekt, den Benjamin "Nachreife" und "Fortleben" nennt.

Damit wird die Übersetzungsproblematik auch für die Geschlechterfrage interessant. Wie Jacques Derrida in der - von Johnson ins Englische übersetzten - "Dissémination" (1972) festgestellt hat, bringt erst die Übersetzung entscheidende Unterschiede hervor. Während nämlich in Platons "Phaidros" einheitlich pharmakon steht, so ist jeder Übersetzer vor die Aufgabe gestellt, jeweils zu entscheiden, ob er pharmakon als Gift oder Heilmittel übersetzt. Erst die Übersetzung also erzeugt eine Differenz in dem, was zuvor - trügerisch - als Einheit wahrgenommen werden konnte. Die Übersetzung hat damit einen doppelten, auf die Diskussion des Geschlechterverhältnisses übertragbaren Effekt: Sie zwingt zur Entscheidung und bringt damit den bloßen Schein der vorausgehenden Einheit ans Licht. Jedoch ist sie damit nicht 'richtiger' als das Original, im Gegenteil wird erst durch sie enthüllt, dass Übersetzen stets zu Entstellungen führt.

Die Entstellungen der Übersetzung und des Originals werden in "Mother Tongues" durchweg durch 'schlechte Übersetzungen' markiert. "Betrayal's felicity" nennt Judith Butler dieses Vermögen der Übersetzung. Der Verrat führt indes über das pharmakon, dessen Übersetzung die im Original vorhandene Ambiguität sichtbar macht, hinaus. Ausgangspunkt ist hierfür stets die Irritation: Auf den ersten Blick scheinen die Übersetzungen das Original zu verfehlen. Doch "Mother Tongues" macht deutlich, dass gerade in dieser Untreue das Vermögen der Übersetzung liegt. Auch hier vertieft Johnson einen Gedanken Benjamins. Denn was dieser sehr genau im Blick hatte, war, dass Übersetzung gerade nicht Ähnlichkeit heißt. Zwar denkt er die Beziehung von Original und Übersetzung als verwandt, jedoch in dieser Verwandtschaft radikal unähnlich: "In Wahrheit aber bezeugt sich die Verwandtschaft der Sprachen in einer Übersetzung weit tiefer und bestimmter als in der oberflächlichen und undefinierbaren Ähnlichkeit zweier Dichtungen."

In Kafkas Roman "Der Prozess" stößt Johnson auf eine eigenartige Übersetzung des Wortes Verleumdung im ersten Satz der Erzählung: "Someone must have traduced Joseph K., for without having done anything wrong he was arrested one fine morning." ("Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet.") Das Wort "traduce", das der Übersetzer hier für "verleumdet" gewählt hat, ist zunächst "bad translation" - "verleumdet" wäre eher "to calumninate" oder "to slander" - und dennoch kommt Johnson zu dem Schluss, dass diese Wahl sogar besser ist als das Original. Denn "traduce" verschafft der Aussage eine zusätzliche Bedeutung. Es bringt die Übersetzung selbst ins Spiel: "traduce" kommt von lat. "traducere", "hinüberführen" bzw. jemanden "übersetzen", heißt also ganz wörtlich übersetzen. Die Übersetzung führt jedoch gleichzeitig das Scheitern dieses Übersetzens vor. Der Akt des Verhaftens von Josef K. wird dadurch eindrücklicher dargestellt, als es eine genauere Übersetzung gekonnt hätte.

Die Übersetzung erweist sich damit als Lektüre, die einen doppelten Verrat betreibt: am Original, aber auch an der Sprache, in die übersetzt wird. Die Entstellung der Muttersprache erfolgt in beide Richtungen: "Only through translation does the work's foreignness to its own language become apparent." Der Ruhm der Übersetzung gründet nicht in seiner mimetischen Treue, sondern in den Defigurationen der Muttersprache. Diese Benjamin vertiefende Einsicht gewinnt Johnson durch die Sprache der Dichtung. Der Lyriker Stéphane Mallarmé, der ebenfalls Übersetzer war, hat erkannt, dass Dichtung Entstellung der Sprache heißt: "de plusieurs vocables refait un mot total, neuf, étranger à la langue". Diese Erkenntnis ist die ertragreichste, die "Mother Tongues" uns nahe legt. Denn sie formuliert eine durch die Lektürepraxis hervorgebrachte Antwort auf die Benjamins Übersetzer-Aufsatz strukturierende Frage: wie nämlich die Sprache einer Übersetzung aussehen kann, die - wie die Dichtung - nicht auf Mitteilung aus ist. In dieser Annäherung von Übersetzung an die Dichtung qua étrangeté erfährt Benjamins Problem, das dieser nur durch das Postulat einer "reinen Sprache" eines "endgültigeren Sprachbereichs" lösen konnte, eine entscheidende Wendung. Gegenüber Benjamin, der die Aufgabe des Übersetzers als "Erlösung" der in fremde Sprache gebannten "reinen Sprache" betrachtet, betont Johnson für die Übersetzung die fortschreitenden Entstellungen. Der Gewinn der Lektüre von "Mother Tongues" liegt - neben einer Revision der Johnsons wissenschaftliche Arbeit bestimmenden Autoren und Fragen - in dieser die "Aufgabe des Übersetzers" profilierenden Lektüre.

Anmerkung der Redaktion: Cornelia Wild ist Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung.


Titelbild

Barbara Johnson: Mother Tongues. Sexuality, Trials, Motherhood, Translation.
Harvard University Press, Cambridge, Massachussetts, London 2003.
204 Seiten, 40,10 EUR.
ISBN-10: 0674011872

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