Benjamins Zwerg

Aus der neueren Literatur zur Theologie bei Walter Benjamin

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das religiös-theologische Moment in Walter Benjamins Denken hat dessen Rezeption lange vor große Schwierigkeiten gestellt. Die Interpreten haben es lange teils ignoriert oder wegzudeuten versucht, teils wurde es zum Schibboleth einer grundsätzlichen intellektuellen Positionierung, was dem Verständnis Benjamins nicht immer nützlich war. Heute ist die Situation eine andere: Die marxistische Ideologiekritik und mit ihr die Religionskritik hat Plausibilität verloren und mit ihr die lange die Diskussion beherrschende Alternative 'Theologie oder Materialismus' ihre zwingende Kraft. Wenn heute aus ganz anderen Gründen die Religion im kulturwissenschaftlichen Diskurs wie in der allgemeinen Öffentlichkeit wieder Aufmerksamkeit erweckt, so kann man nicht nur erwarten, dass Benjamins Denken wieder aktuell wird. Es könnte auch zu neuen Einsichten in das Werk Benjamins führen. Um so mehr, als es für die gegenwärtige Konjunktur der Religion in den Kulturwissenschaften nur wenige - tatsächlich: erstaunlich wenige - Gewährsmänner gibt, unter denen Benjamin neben Carl Schmitt wohl zu den am meisten zitierten gehört.

Theologie und Politik - vielfältig

Einen Überblick über den Diskussionsstand gibt der von Bernd Witte und Mauro Ponzi herausgegebene Band Theologie und Politik. Walter Benjamin und ein Paradigma der Moderne, der auf eine 2003 in Rom veranstaltete Konferenz zurückgeht. Sehr deutlich wird an den Beiträgen, worin die Aktualität des Benjamin'schen Denkens liegt: Nicht nur Fundamentalismus, Terrorismus und generell die Rückkehr der Religionen, sondern auch die neue Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges ruft zu einer grundsätzlichen Neukonzeptualisierung des Politischen auf. Nicht alle Aufsätze des Bands berühren Benjamin - es finden sich hier auch ganz allgemeine und wenig problembezogene Darstellungen über Religion und Politik in Amerika, im Islam oder im Judentum -, die meisten Texte setzen sich aber im- oder explizit mit Benjamin auseinander, und zwar in aufschlussreich verschiedener Weise. Teilweise wird die theologische Dimension mehr oder weniger ungebrochen affirmiert, in der Regel geht das mit einer losen Paraphrase Benjamin'scher Gedanken einher, die dann ohne Zäsur in explizit theologische Überlegungen fortgeführt wird - etwa wenn Donnatella Di Cesare Benjamins "Theologie der Sprache" vom Übersetzeraufsatz nahtlos in Rosenzweigs Sprachdenken fortschreibt. Teilweise wird diese Theologie aber auch nur als Sprungbrett für ganz andere Fragen verwendet, indem Benjamins Anregungen an irgendeiner Stelle 'weitergedacht' werden. So setzt Boris Groys mit einer (sagen wir: gewagten) Analogie die Theologie mit einem 'Denken der Reproduktion' gleich, welches Benjamins gesamtes Œuvre präge und die Paradoxien moderner Kunst widerspiegele.

Ähnlich gibt es Ansätze, die zwar der Theologie ihr Recht einräumen, aber nur als Funktion in einer anderen, vernunftkritischen Struktur. Üblicherweise ist das mit dem Anspruch verbunden, eine rationale Rekonstruktion von Benjamins Denken zu liefern, die sich von seinen kryptischen Ausdrucksformen lösen könne. So ist für Thomas Rentsch die wahre Transzendenz, auf der Benjamin beharre, ein Schutz gegen jene falsche Säkularisierung, die für profane Ideologien und Praktiken sakrale Bedeutung beanspruche - Benjamins Theologie wird so zum Antidot gegen die Dialektik der Aufklärung. Methodisch entgegengesetzt operiert schließlich das close reading Benjamin'scher Texte, in diesem Band etwa durch Irving Wohlfahrts Lektüre von Benjamins "Der destruktive Charakter" vertreten. Hier werden die Ambivalenzen des Benjamin'schen Textes präzise nachgezeichnet und grundsätzliche Skespis gegenüber allen messianischen Lösungsvorstellungen und Vereinfachungen betont.

Allerdings: Bei aller Wichtigkeit, ja Notwendigkeit solcher Lektüren, sie entbehren nach Jahrzehnten der Benjaminforschung nicht einer gewissen Erwartbarkeit: Die einschlägigen Zitate Benjamins, die stets wiederkehren und doch ihre Rätselhaftigkeit behalten, die Kritik an vereinfachenden Interpretationen und die Betonung der Uneinordenbarkeit des Benjamin'schen Denkens können jedenfalls nicht mehr überraschen.

Man wird begrüßen, wenn manche Beiträge auch problemorientiert von bestimmten Fragen her argumentieren. So geht Sigrid Weigel von vornherein von einer Kritik der politischen Theologie aus, wie sie heute in der Regel im Anschluss an Carl Schmitt betrieben wird. Denn Schmitt gehe letztlich von einer Ersetzung von Religion durch Politik aus; die heute zu beobachtende Rückkehr der Religion ließe sich aber eher mit Benjamin denken, der gerade durch die kategoriale Trennung von Theologischem und Profanem die Interferenzen beider Ordnungen produktiv sichtbar machen könne.

Auch Giorgio Agambens Beitrag geht von einer Kritik Schmitts aus, ohne freilich explizit auf Benjamin zu sprechen zu kommen. Er arbeitet eine Form der Theologie heraus, die im abendländischen Diskurs stets als unheimliche Alternative zur politischen fungierte, aber in der gegenwärtigen Debatte meist vergessen ist: die ökonomische, die nicht von Gottes Herrschaft über die Welt, sondern von seinem (innertrinitarischen) Leben und Haushalten ausgeht und noch in der berühmten Debatte zwischen Schmitt und Erik Peterson eine bestimmende Rolle gespielt hat.

Kapitalismus als Religion - systemtheoretisch

Mit der Frage nach der Theologie des Ökonomischen berührt Agamben ein Thema, das in den letzten Jahren besondere Konjunktur zu haben scheint und im besprochenen Band auch in anderen Beiträgen immer wieder aufscheint: Die Theologie des Kapitalismus. Offensichtlich ist der Nutzen dieser Figur in der aktuellen Debatte - erlaubt sie es doch, Religion nicht nur immer als Sache der anderen zu denken, sondern auch die Religion des 'Westens' sichtbar zu machen. Offensichtlich ist auch die Nähe zu Benjamin'schen Gedanken, wobei eigenartigerweise weniger seine breiten Marx-Referenzen und das Passagen-Werk im Mittelpunkt des Interesses stehen als der kleine Text Kapitalismus als Religion, in dem Benjamin versuchte, die unendliche Vermehrung der Schuld im Kapitalismus als Inversion eines permanenten religiösen Rituals zu lesen: Nicht, wie Max Weber meinte, entstammt der Kapitalismus der Religion, er ist selbst eine religiöse Erscheinung.

Dieser Text steht auch am Anfang eines 2003 von Dirk Baecker herausgegebenen Sammelbandes "Kapitalismus als Religion", der verschiedene mehr oder weniger an der Luhmann'schen Systemtheorie orientierte Beiträge vereinigt. Die Systemtheorie taucht hier nicht zufällig als die Dritte im Bunde von Ökonomie und Theologie auf, präsentiert sie sich doch selbst gerne als 'ideologiefreie' Alternative zur marxistischen Analyse der Moderne und verspricht zugleich ein abgeklärteres Verhältnis zur Religion, die systemtheoretisch nicht mehr falsches Bewusstsein ist, sondern ein gesellschaftliches Subsystem unter anderen - wie eben auch die Ökonomie. Um die Unterscheidung und Unterscheidbarkeit dieser Systeme kreist nun gerade der Text Benjamins, dessen Denkduktus dem abstrakten Funktionalismus der Systemtheorie wohl nicht entgegengesetzter sein könnte.

Der Großteil der Beiträge schwankt dann auch zwischen der Exegese Benjamins und allgemeinsten Überlegungen über die Relation von 'der Wirtschaft' und 'der Religion', deren Abstraktionshöhe dann freilich eine Gleichsetzung der beiden Register allzu leicht macht. Aber es gibt auch spezifische Einsichten: Etwa wenn Uwe Steiner und Werner Hamacher in subtiler Lektüre die Zweideutigkeit des Schuldbegriffes in Benjamins Text herausarbeiten oder Joachim van Soosten aus Benjamin'scher Perspektive die christliche Erlösungssymbolik entziffert. Überhaupt wird mit Benjamin die von der Systemtheorie gerne vernachlässigte kulturelle Symbolisierung neu lesbar, etwa in Birger Priddats Lektüre der mythologischen Motive auf den Banknoten des 19. Jahrhunderts. In einigen Beiträgen führt die Benjamin'sche Perspektive auch zu einer Kritik der Systemtheorie. Christoph Deutschmann etwa betont, dass Geld keinesfalls ein reines Kommunikationsmedium sei, wie Luhmann behaupte, sondern auch ein Wertspeicher. Gerade die unendliche Akkumulation der Werte sei unsere eigentliche Utopie: der Traum vom absoluten Reichtum. "Benjamin könnte Recht haben mit seiner These, daß der Gesellschaft nach dem Niedergang der traditionellen Religion die eigentlich religiöse Desillusionierung erst noch bevorsteht: der Abschied von der Religion des Kapitalismus."

Anstatt so von einem Ende der Wirtschaft aus zu denken, geht Dirk Baeckers Beitrag eher von einer Zukunft der Religion aus, die im Luhmann'schen Systemfunktionalismus vielleicht allzu zivil gefasst werde und in Zukunft die abstrakte Codierung von Transzendenz und Immanenz durch aktuellere und politischer Differenzen wie jene zwischen 'uns' und den 'anderen' ersetzen könnte - also durch jene Formen radikaler Exklusion und Inklusion, die auch der späteste Luhmann als tendenziell bedrohlich für die funktional differenzierte Gesellschaft ansah.

Wie schon gegenüber der politischen Theologie fällt Benjamin also auch hier in gewisser Weise die Rolle des Störenfriedes zu, der den allzu abstrakten Frieden zwischen den Funktionssystemen und Codes ebenso wie zwischen den Theoriediskursen stört. Benjamins Reflexion über die Gleichung von Religion und Kapitalismus, so einleitend der Herausgeber, zeige eben "dass daran genau deswegen nichts stimmt, weil alles daran stimmt." Dass Benjamins Texte von der so ganz anders konstituierten Systemtheorie überhaupt wahrgenommen und als Anstoß fruchtbar gemacht werden, ist wohl auch ein Symptom, dass Benjamins Denken die Aura des Sakrosanten verliert und jetzt zu einem Baustein unter vielen anderen im Reservoir der Theorien wird.

Skripturalität - Brian Britt, Benjamin und die Bibel

Wie fruchtbar eine solche Verwendung Benjamins auch auf von der Benjamin-Rezeption gar nicht berücksichtigten Gebieten ist, zeigt Brian Britts Studie "Walter Benjamin and the Bible". Lässt der Titel bieder eine Rezeptions- und Lektüregeschichte der Bibel durch Benjamin erwarten, so enthält das Buch doch sehr viel mehr. Es zeichnet nicht einfach Benjamins Umgang mit der Bibel nach, sondern entwirft ausgehend von Benjamin eine Kategorie der 'Heiligen Schrift'. Darunter versteht Britt nicht eine bestimmte Klasse von Texten, sondern eine Funktion im Jakobson'schen Sinn: eine Bedeutungsdimension von Texten im allgemeinen, die viele der abendländischen Anschauungen über Recht, Politik, Ethik etc. entscheidend präge, aber in diesem Zusammenhang noch kaum zureichend thematisiert worden seien. Wie Britt überzeugend zeigen kann, spielt diese Funktion auch in Benjamins Denken an ganz verschiedenen Stellen eine entscheidende Rolle. Zum einen betont dieser stets den Zusammenhang von Text und Übersetzung bzw. Text und Kommentar, der am Heiligen Text paradigmatisch verwirklicht sei - etwa wenn er am Schluss des Übersetzeraufsatzes die Interlinearversion des heiligen Textes als "Urbild" aller Übersetzung bezeichnet. Zum anderen lasse sich aus Benjamins Texten eine Theorie des Archivs bzw. die Gleichzeitigkeit von Erinnerung und Verlust herausarbeiten, die ebenfalls für die heiligen Texte der abendländischen Tradition charakteristisch seien, die sich in der Regel als Überschreibungen älterer Texte und als 'Archiv' verlorener Ursprünge präsentieren. Heilige Texte können Ursprünge - in Benjamins Auslegung der Genesis: 'reine Sprache' - darstellen, indem sie von deren Verlust erzählen. Dieser funktionale Begriff der Heiligen Sprache erlaubt es Benjamin auch, nach dem Nachleben der Heiligen Schrift - nach der Skripturalität - in der Moderne zu fragen. Sie findet sich für ihn etwa in den Parabeln Kafkas, in denen Erzählung und Deutung, Ursprung und Verlust nicht unterschieden werden können. Sie findet sich schließlich für Britt auch in Benjamins Schriften selbst, die bewusst versuchen, sich durch ihre Komposition der skripturalen Funktion anzunähern.

Benjamin hatte vom 'Leben' und der 'Nachreife' der Texte gesprochen, die sich in ihrer Geschichte verändern - Britt zeigt nicht nur, wie die biblischen Texte selbst auf der Interpretation älterer Texte basieren, sondern das auch explizit reflektieren. Indem etwa das Ende des Deuteronomiums seine eigene Zukunft im Lied des Moses vorwegnehme, inkorporiere es die eigene Lesbarkeit. Insbesondere hier greift Britt, selbst Professor for Religious Studies, auf eine breite und hochinteressante Diskussion über die literarischen und epistemologischen Strategien der Bibel zurück, die hierzulande noch kaum rezipiert worden sind. Er zeigt damit, wie fruchtbar es sein kann, den üblichen Rahmen der Benjamin-Interpretation zu überschreiten. Nicht nur steht aus dieser Perspektive manches von Benjamins Denken, das früher gerne esoterisch-mystischen Quellen zugeschrieben wurde, plötzlich im Zentrum europäischer Tradition. Die reflexive Wendung von den Heiligen Texten zur 'Skripturalität' zieht ebenfalls heilsamen Abstand zu vermeintlich 'mystischen' Momenten in Benjamins Denken nach sich. Schließlich eröffnet auch die entschlossene Anwendung, die sich für die Kontexte von Benjamins Denken nicht als Quellen, sondern als Gegenstände interessiert, eine zugleich nüchterne und fruchtbare Perspektive für die Zukunft.

Benjamins Rest - Giorgio Agamben, Benjamin und Paulus

In ganz anderer Weise dient Benjamin auch Giorgio Agamben zum Verstehen der Bibel: "Die Zeit, die bleibt" - bereits 2000 auf italienisch erschienen, erst jetzt übersetzt - will im Untertitel "Ein Kommentar zum Römerbrief" sein; ganz bescheiden gibt er vor, lediglich dessen ersten Satz zu kommentieren. Tatsächlich handelt es sich um eine avancierte Lektüre der messianischen Dimension des Römerbriefs, die eine Fortsetzung von Agambens Reflexionen über das Politische darstellt. Ganz unbefangen werden dabei Benjamin'sche Gedanken und Kategorien verwendet, und zwar besonders solche, die bei Benjamin selbst eher eine Randexistenz führen: also nicht das 'dialektische Bild', sondern etwa die Kategorie der 'Erfordernis', die Benjamin an verschiedenen Stellen mehr berührt und entwickelt. Vor allem aber hat Agamben - bekanntlich selbst Benjamin-Herausgeber - hier wie auch in anderen Texten das programmatisches Verfahren Benjamins perfektioniert: ohne Anführungszeichen zu zitieren. Das erscheint manchmal, etwa in den Denkbildern, die sich explizit mit Benjamin und dessen Methode beschäftigen ("Der Prinz und der Frosch" aus Kindheit und Geschichte), eher als Paraphrase, ja als geschicktes Pastiche der Texte Benjamins. Je weiter sich Agamben aber von Benjamin entfernt und je weiter er der Eigenlogik seines jeweiligen Gegenstandes folgt, desto überraschender und fruchtbarer sind seine Ergebnisse. Und das ist gerade im Pauluskommentar der Fall, der auf den ersten Blick nur wenig mit Benjamin zu tun hat.

Agamben schließt hier an Jacob Taubes berühmte letzte Vorlesung über den Römerbrief an und kreist vor allem um die Kategorie des Messianischen als Aussetzung bzw. Neutralisierung des Gesetzes und als innere Zäsur der Identität. Am Paulinischen Text spielt er verschiedene Figuren der Unterbrechung durch: Die Berufung, die Paulus zum Apostel erfährt, ist wesentlich Widerrufung des Rufs; das Paulinische hos me - der Gläubige soll haben, als hätte er nicht etc. - wird als Aufschub gedacht; das messianische Leben der Christen ist ein Leben in 'reiner Potenz'. Und der 'Rest Israels', als den Paulus die christliche Gemeinde versteht, ist etwas, das quer zu den Unterscheidungen steht, und das damit - hier liegt der politische Gehalt des Textes - immer verhindert, sich selbst und die anderen klar zu unterscheiden.

Hier wie in anderen Texten versucht Agamben also, Religion und Dekonstruktion in fruchtbarer Weise zusammenzudenken. Benjamins Bedeutung und die Bedeutung dieses Denkens für die Lektüre Benjamins liegt dabei nicht nur an den vielen Anspielungen und Verweisen, sondern im konsequenten und insistierenden Versuch, das Messianische wirklich zu denken: also es nicht einfach als metaphysisches Rudiment oder als radikale Utopie an den äußersten Rand der Wirklichkeit abzuschieben, sondern es mitten in deren Mitte anzusiedeln. So ist das Messianische also nicht das Ende der Zeit, sondern die Zeit, die die Zeit braucht, um zu Ende zu gehen - eben: die Zeit, die bleibt. Das ist eine besondere und provozierende Art, Benjamin ernst zu nehmen - also seine Theologie nicht durch dies oder als jenes zu 'erklären', sondern sie in Vollzug zu setzen.

Ganz am Ende des Textes kommt Agamben dann auch explizit zurück auf Benjamin und will in der "schwachen messianischen Kraft", von der die geschichtsphilosophischen Thesen sprechen, einen Rekurs sehen auf die Paulinische Kraft, die in der Schwäche liegt. Das mag verstören, wenn man Benjamins Judentum als konstitutives Element von dessen Denken betrachtet. Und es ist tatsächlich verstörender als Agambens Text selbst deutlich macht. Indem er sich wie erwähnt in Taubes' Tradition stellt, scheint er ganz dessen Lektüre von Paulus als revolutionärem jüdischen Mystiker zu folgen. Tatsächlich steht für Agambens Paulus aber nicht - wie in Taubes' Lektüre - die erwartete Wiederkunft Christi im Mittelpunkt, sondern die Aktualität des messianischen Lebens schon jetzt. Und das bringt alle Zuordnungen durcheinander, denn einen Messianismus, der seinen Messias schon hat, wird man nicht gut als jüdischen bezeichnen.

Tatsächlich treffen in Agambens Lektüre zwei christliche Diskurse aufeinander: einerseits die radikale Eschatologie Albert Schweitzers, dessen Erklärung der Geschichte des Urchristentums durch die Parusieverzögerung - also das vergebliche Warten auf die Wiederkunft Christi - das schon Taubes sehr stark beeinflusst hatte. Andererseits die präsentistische Eschatologie Rudolf Bultmanns, deren existentiale Interpretation der Paulinischen Texte auch hinter Agambens radikaler Aktualisierung des Messianischen zu stehen scheint. Das ist in der Tat eine hochinteressante Konfrontation, bringt sie doch indirekt so gut wie das gesamte religiös-theologische Denken der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ins Spiel. Auch hier würde sich also der enge Kontext jener Figuren, die man im Zusammenhang mit der politischen Theologie kennt - Schmitt, Benjamin, Heidegger -, plötzlich auf einen viel weiteren Horizont hin öffnen.

Aber: das geschieht nicht. Agambens Text verschweigt solche Bezüge eher, als dass er sie entwickelt. Aufschlussreich ist hier gerade der Vergleich mit Britt, der die Fäden seiner Argumentation auch in andere Texte und Theorien hinein offenlegt und sich damit auch angreifbar macht. Das zeigt, wie fruchtbar eine Lektüre der großen Texte der religiösen Tradition von Benjamin aus sein kann - es zeigt aber auch, dass sie wohl nicht alleine auf Benjamin beruhen kann. Auch Agambens Lektüre ist außerordentlich reich und anregend - aber sie verschleiert mehr oder weniger systematisch, wie sie gemacht worden ist, auch und gerade in dem sie sich bescheiden nur als 'Kommentar' gibt, in dem scheinbar nichts weiter stattfindet als ein genaues Lesen. So verschließt der Text sich in sich selbst, der vermeintlich allein in Augenhöhe mit der Tradition steht, die er ganz neu entdeckt - eine Inszenierung, die faszinierend ist, aber sich nicht gut fortsetzen lässt, es sei denn um den Preis dauernder und fortgesetzter Selbstverschlüsselung, wie sie zumindest einen Teil der Benjamin-Rezeption ja schon länger auszeichnet. Es fragt sich aber, ob heute, angesichts der Aktualität und Fruchtbarkeit gerade von Benjamins religiös-politischem Denken, ein solcher Gestus noch notwendig und nützlich ist.

Anmerkung der Redaktion: Daniel Weidner ist Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung.


Titelbild

Dirk Baecker (Hg.): Kapitalismus als Religion. Copyrights Band 9.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2003.
314 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3931659275

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Titelbild

Brian M. Britt: Walter Benjamin and the bible. 2., erweiterte Auflage.
Edwin Mellen Press, Lewiston 2003.
174 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 0773467270

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Titelbild

Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief.
Übersetzt aus dem Italienischen von Davide Giuriato.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
234 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3518124536

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Bernd Witte / Mauro Ponzi (Hg.): Theologie und Politik. Walter Benjamin und ein Paradigma der Moderne.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2005.
280 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3503079491
ISBN-13: 9783503079490

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