Versäumte Wahlverwandtschaft - Benjamin und der Warburg-Kreis

Das Schicksal des Trauerspielbuchs in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg erschließt sich aus der Korrespondenz im Londoner Archiv: "zu gescheit"

Von Sigrid WeigelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Weigel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor bald drei Jahrzehnten hat Wolfgang Kemp erstmals systematisch Walter Benjamins Beziehung zur zeitgenössischen Kunstwissenschaft untersucht. Dabei spielte auch das Rätsel um die ausgebliebene Reaktion des Warburg-Kreises auf sein Trauerspielbuch (1927) eine Rolle. So konnte Kemp die intensiven Bemühungen Benjamins belegen, den Wissenschaftlern der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) seine Studie zur Kenntnis zu bringen. Benjamins Wunschleser waren Fritz Saxl und Erwin Panofsky, die beiden Autoren der Melancholie-Studie, die er im Trauerspielbuch gewürdigt hatte, aber auch Aby Warburg selbst, zu dessen Programm einer Arbeit "mit kulturwissenschaftlichen Versuchsinstrumenten" in den Grenzgebieten von Religions- und Bildgeschichte er eine besondere Art von Wahlverwandtschaft empfand.

Warum aber sein Buch, dessen gleichermaßen gelehrte wie inspirierte Deutung von Melancholie und Allegorie im Barock sich genau in das Forschungsprogramm der KBW fügte, aus Hamburg keine Antwort erhielt, musste ein Rätsel bleiben. Was Kemp damals als Geschichte eines - vor allem theoriegeschichtlich bedeutsamen - Versäumnisses bewertete, stellt sich aus der Sicht Benjamins als Enttäuschung dar. So hat selbst sein ikonografischer Beitrag zur Entschlüsselung von Albrecht Dürers "Melancolia I" in der grundlegenden Revision des Melancholie-Buches der KBW keine Beachtung gefunden. Dieses Rätsel hat die Forschung seither immer wieder beschäftigt, ohne dass die damals ermittelte Quellenlage wesentlich erweitert worden wäre. Aus der im Londoner Warburg-Institute archivierten Warburg-Korrespondenz (die dank der Verschlagwortung durch Dorothea Mc Ewan und durch die von Dieter Wuttke edierte, zweibändige Ausgabe mit den Briefen Erwin Panofskys inzwischen gut zugänglich ist) konnte die Odyssee des Trauerspielbuchs in der KBW nun aufgeklärt werden - zumindest insoweit, als die interne Verständigung im Kreis um Warburg betroffen ist.

Die Anstrengungen Benjamins, sein Trauerspielbuch den Wissenschaftlern in Hamburg zu empfehlen, sind seit Langem belegt: seine Bemühungen, über Gershom Scholem und Hugo von Hofmannsthal mit dem Kreis um Warburg ins Gespräch zu kommen. Doch dieses Interesse wurde nicht erwidert. Zwar änderte dies nicht das Bild, das er sich von Warburgs Wissenschaft gemacht hat. Denn auch nach den vergeblichen Bemühungen um Austausch hat er ihn noch als Grandseigneur der Wissenschaften porträtiert. Und noch 1933 in seinem Essay über "Strenge Kunstwissenschaft" spricht Benjamin vom "neuen Forschergeist", der sich in Grenzgebieten "daheim" fühle. In diesem Text entwirft er eine intellektuelle Topografie, die gut und gern als Wahlheimat des Exilierten gedeutet werden kann. Er beschreibt darin die "neue Kunstwissenschaft" als eine Kunstbetrachtung, die aus dem "Geiste wahrer Philologie" und dem Interesse am Unbedeutenden erwachsen sei. Riegl und Warburg zählen darin zu den wichtigsten Zeugen. Dabei ist die Nähe zwischen Warburg und Benjamin aus heutiger Sicht besonders auffällig. Sie teilen die Hervorhebung bedeutsamer Details im Blick auf die Bedeutung des ,Unscheinbaren', das Interesse an den Erregungsspuren und den Gebärden als Ausdruck von Affekten, an der Schrift der Bilder und am Bildgedächtnis, an den kultischen und religionsgeschichtlichen Ursprüngen der Künste und an der Entwicklung von Technik und neuen Medien. Sie teilen einen Begriff der Geschichte, der - indem er die kulturgeschichtliche Entwicklung am Faden des Bildgedächtnisses betrachtet - Phänomene des Nachlebens kultureller Ausdrucksformen vorausgegangener Epochen in den Blick nimmt, um auf diese Weise vielfältige historische Korrespondenzen zu konfigurieren: zwischen Antike und Renaissance, Antike und Moderne oder Renaissance und Moderne. Umso unverständlicher ist es, dass diese latenten Korrespondenzen nicht manifest geworden sind. Statt Benjamins Buch aufzunehmen, wurde es im Warburg-Institut von einem zum anderen geschickt: von Warburg in Hamburg an Saxl in London und retour nach Hamburg an Panofsky. Die Zwischenzeilen dieser Odyssee stellen sich im Lichte der überlieferten Korrespondenz nun folgendermaßen dar.

Der KBW war vom Rowohlt Verlag ein Rezensionsexemplar des Buches zugeschickt worden. Daraufhin hatte Warburgs Mitarbeiterin Claudia Hertz einen Postscheck über zwölf Mark an den Verlag geschickt, da der "Herr Professor grundsätzlich nicht Exemplare annimmt, auf denen die Verpflichtung der Rezension liegt, das Buch ihn aber interessiert und in den Rahmen der Bibliothek passt", (28. Januar 1928) und das Exemplar offenbar Aby Warburg übergeben. Denn der selbst hatte Benjamins Buch am 4. Juni 1928 mit einer Widmung versehen und es an Fritz Saxl geschickt, der sich gerade zu Archivstudien in London aufhielt.

Diesem war das Buch bereits mit einem Brief, in dem er sich nach dem Erscheinen der zweiten Auflage von Saxl/ Panofskys Melancholie-Buch erkundigte, von Scholem empfohlen worden: "Ein nach meinem Dafürhalten höchst großartiges Kapitel über das Melancholie-Problem, das Ihren Intentionen von einer ganz anderen Seite her aufs offensichtlichste entgegenkommt, steht in dem soeben erschienenen, sehr bedeutendem Werk' Ursprung des deutschen Trauerspiels von W. Benjamin. Vielleicht ist dieser Hinweis ganz überflüssig, da Sie das Buch ja wohl haben werden. (ich habe dem Autor sehr empfohlen, der Bibliothek Warburg ein Exemplar zu schicken) aber es wäre ja möglich, daß es Ihnen bei dem scheinbar fernab liegenden Titel nicht auffällt. Der Autor dieses Buches ist mein bester Freund, und ich bedaure sehr, Ihnen nicht in Hamburg von ihm erzählt zu haben, denn ich glaube, daß Sie kaum viele Leute finden werden, die ein so außerordentliches Verständnis für die Probleme der Geschichte die den Warburg-Kreis beschäftigen, mitbringen wie dieser Mann, der von ganz andren Ausgangspunkten aus auf Sie gestoßen ist" (24. Mai 1928).

Mit seiner Empfehlung glaubte Scholem, an die bestehenden Kontakte anknüpfen zu können, denn er stand seit einigen Jahren im Austausch mit Hamburg. Was er allerdings nicht wissen konnte ist, dass man dort seine Kenntnisse zwar über die Maßen schätzte, auch an der Aufnahme eines Aufsatzes von ihm in das Jahrbuch der KBW interessiert war, dass man sich seine Person aber eher auf höfliche Distanz halten wollte. So berichtete Saxl dem in Rom weilenden Warburg nach Scholems Besuch in Hamburg ausführlich und beendete sein Bild von dessen Intellekt und Charakter mit dem Satz: "Sowie man ihn übrigens in einer konkreten Sache befragt, gibt er sprudelnd Auskunft und endet mit dem stereotypen Satz: darüber könnte ich sehr gut bei Ihnen einen Vortrag halten" (29. Oktober 1927). Insofern war die Scholem'sche Vermittlung möglicherweise nicht die glücklichste. Dennoch beteuerte Saxl in seinem Antwortschreiben Scholem gegenüber sein Interesse und betonte auch die Bedeutung des Buchs für die Überarbeitung der Dürer-Studie, schickte es aber ebenfalls weiter: "Das Buch von Benjamin hat mich sehr interessiert, wenn es auch wahrscheinlich nicht leicht zu lesen ist. Aber der Mann hat doch etwas zu sagen und kennt sein Material. Ich habe es heute wieder an Panofsky weiter geschickt, damit es in die zweite Auflage eingearbeitet wird. Gerade für die Spätzeit, für die wir kein Material haben, ist das von Benjamin ja so interessant. Ich hoffe sehr, Herrn Benjamin auch persönlich kennen zu lernen. Wo lebt er?" (17. Juni 1928)

Der Brief, mit dem Saxl sich bei Warburg für die Zusendung von Buch und Widmung bedankt hatte, spricht eine deutlichere Sprache: "Schönen Dank für die Widmung des Buches von Benjamin. Ich habe mich über die Tatsache der Widmung sehr gefreut. Das Buch ist mir zu gescheit" (6. Juni 1928). Diese Entgegensetzung von Widmung und Buch ist als Reaktion von Saxl besonders interessant, da derselbe Brief die eigene Rolle in der Arbeitsteilung zwischen Warburg und ihm sehr ironisch kommentiert: Während Warburg, dessen "Divinationskraft in historischen Dingen" er bewundere, die großen Deutungsthesen liefern darf, bleibt es ihm, "wie schon manchmal [...] freundlich überlassen, den Kram dazu zusammenzusuchen", d. h. die positivistische Knochenarbeit zu machen: "Wie ich die Ausdauer zu diesem Unternehmen habe, weiss ich noch nicht, interessiert Sie und andre ja auch nicht." Sich in die Rolle eines Zuarbeiters zurückziehend, kann er ,zu Gescheites' von sich weisen.

Die Abwehr gegen das 'zu gescheite' Buch teilte Panofsky allerdings mit Saxl. Dem war, als ihm das Buch von Saxl zuging, die Sache nicht ganz neu, denn er hatte Benjamins Thesen zur Melancholie - in Form des Vorabdrucks vom Melancholiekapitel, das in den "Neuen Deutschen Beiträgen" erschienen war und das Hofmannsthal ihm hatte zukommen lassen - schon vorher in Händen gehabt und offenbar schroff zurückgewiesen. Am 30. Januar 1928 jedenfalls hatte Benjamin Scholem mitgeteilt, er habe von Hofmannsthal "einen kühlen, ressentimentgeladenen Antwortbrief Panofskys auf diese Sendung. Kannst du dir darauf einen Vers machen?"

Der auf diese Zurückweisung hin in Gang gesetzte diplomatische Umweg über Scholem an Saxl endete nun ausgerechnet wieder bei Panofskys Adresse. Der reagierte auf den wiederholten Empfang nicht aufnahmebereiter, fühlte sich nun aber angesichts seiner vorausgegangenen expliziten Zurückweisung peinlich berührt: "Also zunächst: das Benjaminsche Buch habe ich auch schon gelesen, es ist mir auch zu klug, aber ich habe ebenfalls viel daraus gelernt. Die eine Beschreibung der Melancholie von einem Barockdichter des 17. Jahrhunderts, ist übrigens, was B. nicht gemerkt hat, ziemlich genau nach Ripa: wirf die Katze, wie du willst, sie fällt immer auf die bekannten ikonologischen Hinterbeine. Jener Benjamin ist übrigens, was mir ex post sehr peinlich ist, derselbe, wegen dessen Hofmannsthal mir damals geschrieben hatte (ich glaube, ich erzählte Ihnen davon), und von dem ich damals in Unkenntnis seines Buches zurückschrieb, dass ich ihn nicht kennte und mir auch einer Anregung auf ihn nicht bewusst wäre..." (21. Juni 1928).

Aus dieser Korrespondenz wird erkennbar, dass die Autoren der Melancholie-Studie im Warburg-Kreis durchaus Etliches aus Benjamins Beitrag zur Kulturgeschichte und Emblematik der Melancholie "gelernt" haben, zumal sich das von ihm untersuchte Textcorpus nicht mit ihren Quellen deckte. Umso erstaunlicher bleibt es, wie stark das Buch von ihnen zurückgewiesen und das Interesse des Autors an einem Austausch brüskiert wurde. Benjamins wenige Jahre später veröffentlichte Würdigung der neuen Wissenschaft jenseits des "Gebietscharakters" der Disziplinen als "Bewegung" liest sich vor dem Hintergrund dieser Geschichte dagegen wie eine Beschwörung. Dass er seine These zur Melancholie als Haltung einer Treue zu den Dingen im Trauerspielbuch ausgerechnet mit einem Zitat des Abû Ma'sar belegt und dieses nach Panofsky/Saxls Dürer-Studie von 1923 zitiert hatte, macht den phantasmatischen Status dieser "Bewegung" noch deutlicher. Denn die Nichtbeachtung seiner Melancholie-Deutung wird vermutlich sehr banale Motive gehabt haben, die in der Verteidigung eines Gebiets zu suchen sind. Doch solche Motive verweisen auf den Abstand, der zwischen dem erkenntnistheoretischen Bedeutungsgehalt des Wortes "Gebietscharakter" und seinem wissenschaftspolitischen Sachgehalt liegt. Und dass das Schreiben von Wahlverwandtschaften sich aus einer Erfahrung des Versäumten speist, hatte er schon in seinem Essay über "Goethes Wahlverwandtschaften" formuliert.

Anmerkung der Redaktion: Sigrid Weigel ist Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung. Der Beitrag ist ein Ausschnitt aus ihrem Aufsatz: Bildwissenschaft aus dem "Geiste wahrer Philologie". Walter Benjamins Wahlverwandtschaft mit der "neuen Kunstwissenschaft" und der Warburg-Schule. In: Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste. Hg. v. Detlev Schöttker. Frankfurt/ M. 2004. S. 112-126, der erstmals erschienen ist in: Süddeutsche Zeitung v. 2.7.2004, S. 16.

Literatur:

Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/ M. 1980. Bd. I.1, S. 203-430.

Walter Benjamin: "Strenge Kunstwissenschaft". In: Ebd., Bd. III, S. 363-374.

Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. 6 Bde. Hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt/ M. 1995-2000.

Wolfgang Kemp: Fernbilder. Benjamin und die Kunstwissenschaft. In: Burckhardt Lindner (Hg.): Walter Benjamin im Kontext. 2. erw. Auflage. Frankfurt/ M. 1978. S. 224-257.

"Wanderstrassen der Kultur": die Aby Warburg - Fitz Saxl-Korrespondenz, 1920-1929. Hg. v. Dorothea McEwan, München 2004.

Aby Warburg Institute London: Archiv der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Aby Warburg.

Titelbild

Erwin Panofsky: Korrespondenz 1910 bis 1968. Eine kommentierte Auswahl in fünf Bänden: Band 1.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2001.
1142 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3447044489

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Erwin Panofsky: Korrespondenz 1937-1949. Eine kommentierte Auswahl in fünf Bänden: Band 2.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2003.
1363 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3447045647

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