Politische Theologie
Giorgio Agamben über Kindheit und Erfahrung
Von Florian Fuchs
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Die Differenz als Dialektik austragen, ist gerade die Aufgabe politischer Philosophie, wie Benjamin sie versteht." (H. Günther)
Ende der siebziger Jahre kam es in Italien zu einer umfangreichen Walter-Benjamin-Rezeption. Die Ereignisse in Polen und Ungarn, die Endstalinisierung, die Dogmatisierung der Kommunistischen Partei, die Öffnung der italienischen Sozialisten zur politischen Mitte usw. hatten das Bedürfnis der italienischen Linken nach alternativen marxistischen Traditionen verstärkt. Die Auseinandersetzung Pasolinis mit der KPI, insbesondere seine radikale Identifizierung des Universellen mit dem römischen Subproletariat, ist hier paradigmatisch. In diesen Kontext gehört auch Giorgio Agambens Buch "Kindheit und Geschichte" aus dem Jahr 1978, das Suhrkamp im Zuge der allgemeinen Begeisterung für den italienischen Philosophen 2004 erstmals auf Deutsch vorgelegt hat. Titel und Untertitel lassen eine Theorie der Kindheit erahnen, die als Ergänzung, Korrektur und Kritik eines orthodoxen Marxismus im Sinne Benjamins gelesen werden will.
Innerhalb der Debatte spielte Agamben die dem (Mit-)Herausgeber der italienischen Benjamin-Ausgabe gemäße Rolle: gegen eine von subjektiven Zugangsweisen und politischen Instrumentalisierungen charakterisierte Rezeption, für eine immanente Interpretation. Allerdings bleibt bei aller Berechtigung einer solchen Forderung und allen unzweifelhaften Verdiensten - Agamben hat damals sogar einige verschollen geglaubte Texte Benjamins entdeckt - auch zu bedenken, dass Immanenz immer die Gefahr birgt, zur Apologie zu werden. Agamben nämlich geht es darum, dem Denken Benjamins ein "Fortwirken" zu sichern, d. h. den "logischen Ort vor[zu]bereiten, an dem dieser Keim reifen kann."
"Kindheit und Geschichte" stellt die Frage nach einer marxistischen Konzeption der Zeit. Ein Hauptversäumnis des historischen Materialismus bestünde darin, es bislang unterlassen zu haben, "einen Begriff der Zeit zu erarbeiten, der sich mit seinem Begriff der Geschichte messen könnte." Dies sei umso schlimmer, als eine "authentische Revolution" nie einfach darin bestünde, die ",Welt zu verändern', sondern auch und vor allem darin, 'die Zeit zu verändern'." Daher sei notwendig, "den Zeitbegriff darzulegen, der im marxistischen Geschichtsbegriff impliziert ist."
Demnach wäre die marxistische Zeitauffassung eine zirkuläre ohne Richtung, darin der griechischen ähnlich (Aristoteles war der Auffassung, dass es unmöglich sei, zu sagen, ob man sich vor oder nach dem Trojanischen Krieg befände). Doch ist die marxistische Terminologie nur der oberflächliche Anknüpfungspunkt für eine Reflexion eher ontologischer Art - wie immer bei Agamben. Vor allem das Christentum schafft einen Raum der Geschichte, eine Zeit, in der unwiederholbare, einzigartige und daher sinnvolle Ereignisse aufeinanderfolgen und der "Lauf der Sterne" sich zur "inneren Dauer" verschiebt. Die moderne Zeitauffassung beschreibt Agamben insofern als "Profanisierung" der "christlichen und irreversiblen Zeit". Sie kennt kein Ende mehr, sondern nur ein Weiter und daher keinen Sinn. Das 19. Jahrhundert und insbesondere der Historismus installierten die "Annahme einer objektiven historischen Kontinuität" (Lévi-Strauss). Diese Vorstellung einer leeren, linearen Zeit erhält durch die "Arbeit in den Manufakturen" immer wieder scheinbar selbstverständliche Evidenz. Das Problem des modernen Menschen sei daher, "dass er noch keine Erfahrung der Zeit besitzt, die seinem Begriff der Geschichte angemessen wäre". Er nehme konsequenterweise an, er lebe für den (privilegierten) "flüchtigen Augenblick".
Voraussetzung einer authentischeren Zeiterfahrung ist für Agamben eine fundamentale Kritik des Zeitpunkts. Die Elemente einer solchen "anderen Zeiterfahrung liegen verstreut in den Falten und Schatten der kulturellen Tradition des Westens." Wo? Z. B. in der Gnosis, die er der christlichen Linie und dem griechischen Kreis in der Figur der "gebrochenen Linie" radikal gegenüberstellt. Die gnostische Zeit ist "zusammenhangslos" und "nicht homogen": Eine Zeit, "deren Wahrheit im Moment unmittelbarer Unterbrechung liegt, in dem der Mensch in einem plötzlichen Bewusstseinsakt seines eigenen Zustands als Wiederauferstandener habhaft wird. [...] [D]iese Erfahrung der unterbrochenen Zeit hängt zwingend mit der resolut revolutionären Haltung des Gnostikers zusammen: Er lehnt zwar die Vergangenheit ab, aber wertet in ihr durch eine exemplarische Vergegenwärtigung das auf, was als negativ beurteilt worden war (Kain, Esau, die Bewohner Sodoms), ohne sich aber etwas von der Zukunft zu erhoffen." Die Utopie zielt nicht etwa auf eine revolutionäre Zukunft, sondern auf ihre Realisierung in der unmittelbaren Gegenwart. Die neue Beziehung zwischen Zeit und Geschichte soll paradoxerweise von der per se antichronologisch verfahrenden Philologie gestiftet werden. Ihre restlose Identifizierung mit der Dichtung soll Geschichte neu erfahrbar machen. Eine poetische Überschreitung der Wissenschaft also mit der Maßgabe, jene "prägnanten Begriffe" (Schmitt) hervorzubringen, die an der Zeit sind. Dabei geht es um eine "Philologie, die sich von den engen Grenzen akademischer Disziplinierung befreit hat": Philologie als "kritische Mythologie".
Ein Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Benjamin aus dem Jahr 1938 soll die methodischen Unterschiede zwischen den beiden Philosophen aufzeigen. Dabei lässt Agamben keinen Zweifel daran aufkommen, wem seine uneingeschränkte Sympathie gilt. Den von Adorno erhobenen Einwand der Abstraktheit und der fehlenden Vermittlung von Basis und Überbau wendet Agamben gegen diesen selbst. Vulgärmaterialistisch findet er nicht, dass Benjamin 'unmittelbar' von Phänomenen der "Basis" auf solche des "Überbaus" schließt. "Vulgär ist hingegen jene Interpretation [Adornos], die, indem sie im Grunde das Verhältnis von Überbau und Unterbau als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung fasst, jene 'Vermittlung' und jenen 'Gesamtprozess' braucht, um diesem Verhältnis einen Anschein von Sinn zu geben und zugleich die eigene idealistische Scham zu retten." Insofern konnte Benjamin sagen: "Der Überbau ist der Ausdruck des Unterbaus."
Diese methodischen Probleme - wobei fraglich ist, ob im Falle Benjamins die implizierte "Methode" überhaupt existiert - berühren die Frage nach den "Aufgaben der Kritik". Die Trennung von Überbau und Unterbau müsse radikal unterlassen werden und darin liege der Sinn der "Dialektik im Stillstand", "die Benjamin dem historischen Materialismus hinterlässt und die man früher oder später in Betracht wird ziehen müssen." Mit Blick auf die neueren Publikationen des Philosophen könnte man sagen, dass diese Zeit für Agamben offenbar gekommen ist. Denn Benjamin suche einen Begriff der Geschichte, "der der Beobachtung entspricht, dass der 'Ausnahmezustand [...] die Regel ist.' An die Stelle der vernichteten Gegenwart der metaphysischen Tradition setze er eine 'Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist' [...]".
Das ganze "Homo-Sacer-Projekt" besitzt also nicht zuletzt eine benjamin'sche Perspektive. Denn eine zentrale Forderung von Benjamins Denken ist, das eigene Zeitalter in religiös-politischen Begriffen zu fassen. Insofern sind auch Agambens "Denkbilder" historische Montagen, "messianische Splitter" (Benjamin) der Erlösung, konkreter Vorschein eines besseren Lebens. Das Kind z. B. mache einen Gebrauch von seinem Spielzeug, der keineswegs dem vorgesehenen Gebrauch entspricht: Nicht der "Vorstellungsgehalt seines Spielzeugs bestimm[t] das Spiel des Kindes", schreibt Benjamin, sondern: "Das Kind will etwas ziehen und wird zum Pferd." Die Praxis des Kindes wäre also magische Belebung der Dingwelt. In diesem Sinne ist dann Kindheit als Begriff ein Paradigma der zu schaffenden politischen Theologie. Es geht Agamben folglich darum, einen Zugang, ein Verhältnis zur Geschichte herzustellen, das dem der Kinder zur Sprache ähnlich sei: Das Kind erfahre die Sprache von außen und eigne sie sich im Spiel frei an - ebenso wie es alle Gegenstände zu Spielzeug mache und "profaniert". So werde die Theorie der Kindheit zum Paradigma einer Geschichte, in der die Menschen sich ihrer selbst bewusst würden und den Bann brächen, sie wäre analog dem Übergang von reiner Sprache (Lachen, Seufzen, Pfeifen, Stimme, Laut usw.) in den Diskurs (Geschichte). Die Kindheit des Menschen wird so zum "Ursprung der Erfahrung und der Geschichte". Kindliche Weisheit versetzt die Dinge an einen anderen Ort - genauso wie die philologische Methode die Splitter der Vergangenheit antichronologisch inszeniert und verwandelt. Im Land der Spielzeuge scheint jene Utopie insofern realisiert, als das spielende Kind (der spielende Mensch), während es spielt, "die Zeit vergißt".
Dass allerdings weniger Benjamin wichtigster Bezugspunkt Agambens ist als vielmehr Martin Heidegger, zeigt sich schon in "Kindheit und Geschichte". Der Anspruch wird zwar im Sinne Benjamins erhoben, doch "freilich" wird erst bei Heidegger das Zeitbild der westlichen Metaphysik einer wirklich "radikalen" Kritik unterzogen. Einerseits wird ein marxistischer Zeitbegriff in Aussicht gestellt, dann aber ist plötzlich wieder die Imagination Bedingung der Erkenntnis. Heidegger wird immer wieder als die eigentliche Kompetenz ins Feld geführt: "Aber die Vorstellung einer punktuellen und kontinuierlichen Zeit wird erst in Heideggers Denken aus der Perspektive einer destruierenden Wiederholung einer radikalen Kritik unterzogen, die die westliche Metaphysik in vollem Umfang umfasst." Heidegger, der notorische Antikommunist, als derjenige, von dem der "wirkliche marxistische Zeitbegriff" herkommen soll?
Durchaus, schließlich wird der 'demobilisierte' Verfasser der Rekoratsrede in späteren Büchern Agambens auch zum Erklärer von Nazismus ("Homo Sacer") und Auschwitz ("Was von Auschwitz bleibt")! Gerade im apologetischen Umgang mit Heidegger zeigt sich eine eklatante Schwäche Agambens und seiner "philologischen Methode", die auch seine Lesart Benjamins bestimmt. Predigt Agamben seinem erlösungsbedürftigen Publikum neue Gemeinschaft, restituierte und authentischere Erfahrung, Befreiung von Schicksal und Mythos, so verschleudert er gleichzeitig die bürgerliche Subjektivität zu kleinen Preisen. In seinem Büchlein "Die kommende Gemeinschaft" schreibt er: "[D]er unleugbare Ausweis der Modernität" von "Faschismus und Nationalsozialismus" bestünde in deren Einsicht, den "unwideruflichen Untergang der überkommenen gesellschaftlichen Subjekte in aller Klarheit erkannt zu haben." Benjamin - mindestens der der "deutschen Menschen" - hätte so krude Formulierungen sicher zurükgewiesen, ebenso wie Agambens vage Figur einer "beliebigen Identität".
Symptomatisch für das Verhältnis Agambens zu Benjamin ist die Kontroverse mit Jacques Derrida vor einigen Jahren um die Interpretation der "Kritik der Gewalt". So richtig es war, gegen die Position Derridas Einspruch zu erheben, die hier eine Präfiguration der Endlösung erkennen wollte, so sehr wird in der Art der Verteidigung deutlich, dass Agamben Benjamin wie einen Säulenheiligen behandelt. Eine Kritik kommt gar nicht in Frage! Als Hüter des Horts stellt Agamben sich vor seinen Meister. Benjamins Denken sei nach wie vor "unerreicht" und stelle eine "notwendige Vorbedingung" für das Verständnis unserer Gegenwart dar, die wesentlich durch das neue (alte) Verhältnis von Politik und Theologie charakterisiert sei. Benjamin hielt Carl Schmitts permanentem Ausnahmezustand einen "wahren" Ausnahmezustand entgegen. Während Schmitt die Diktatur durch die Integrierung des Ausnahmezustands in das Recht legitimieren will, geht es Benjamin um eine "Stillstellung", bzw. Aufhebung des Rechts. Bedeutet für Schmitt das Ende der Geschichte die Perfektionierung des totalitären Staats im Sinne Hegels, so kann für Agamben das "Ende der Geschichte" nur als "Ende des Staates" gedacht werden, wie er z. B. in seinem Buch "Mittel ohne Zweck - Noten zur Politik" schreibt.
War die Benjamin-Rezeption eigentlich längst in ein akademisches Stadium eingetreten, so wird nun (wieder) eine Lesart laut, die auf die "Aktualität" Benjamins abhebt. Was dieser Debatte fehlt, ist die Historisierung ihrer Argumente und ihres Gegenstands. Angesichts der heutigen weltpolitischen Situation auf ein Denken und eine Terminologie der 20er- und 30er-Jahre zurückzugreifen, ist sicherlich problematisch. Benjamin jedenfalls hätte in einer neuen Situation eine neue Aufgabe und also eine neue Lösung gesucht.
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