Gezähmte Anarchie

Roger-Pol Droit im philosophischen Dialog mit seiner Tochter

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kinder sind Anarchisten. Jedenfalls in ihrem Denken. Sie fragen immer: warum? Die Erwachsenen hingegen lieben die Antworten. In der Philosophie zumal gibt es seit altersher einen Denkertypus, der es besonders gerne mit den letzten Gründen hält. "Philosophie als Letztbegründung" hat er auf seine Flagge gemalt. Doch die Kinder, wenigstens in diesem Punkt sind sich die Skeptiker auf der Gegenseite sicher, werden immer noch ein weiteres "Warum?" parat haben. Und sie haben dabei sogar einen hochangesehenen philosophischen Ahnen, der nichts lieber tat als letzte Gewissheiten in vorletzte Ungewissheiten zu verwandeln: den großen Sokrates, freilich nur solange, wie ihn sein Schüler Platon noch nicht in einen letztgewissen Letztbegründer verwandelt hatte.

Die Kinderphilosophie mit dem ihr eigenen anarchistischen Charme ist in den letzten Jahren zu einer der wenigen philosophischen Zuwachsbranchen geworden. Ganze Kinder-Philosophie-Kongresse und internationale Konferenzen wie die in München 2003 und in Graz 2004 haben stattgefunden. Das Philosophieren "mit Kindern" oder "für Kinder", wie es mit einer kleinen bezeichnenden Nuance hieß, hat Hochkonjunktur. An den Universitäten füllt es gegenwärtig selbst größte Hörsäle. In Hamburg wird Philosophie sogar an etlichen Grundschulen unterrichtet. Und es hat sich ein eigener Verein für das Philosophieren mit Kindern gebildet.

Warum aber fragen plötzlich so viele Erwachsene so gerne Fragen der Kinderphilosophie? Erinnern sie sich ihrer eigenen Kinderfragen? Entdecken sie in der Kinderphilosophie ihre Leidenschaft für das Fragen wieder, während sie als Erwachsene mit ihren Gewissheiten meistens nur schwer an sich halten können? Ist Philosophie überhaupt nichts anderes als die Fortsetzung der Kinderfragen mit anderen Mitteln, den Mitteln Erwachsener, ihre "Sublimation", um ein Wort der Erwachsenen zu gebrauchen? Fragen über Fragen - nur: keine Kinderfragen. Denn für die Kinder sind die Fragen das Einzige, was sich von selber versteht.

Gegenüber der kindlichen Anarchie im Denken und Fragen nimmt sich der Dialog, den der "Le Monde"-Journalist und Philosoph Roger-Pol Droit in seinem Buch "Wie ich meiner Tochter die Philosophie erkläre", mit seiner sechzehnjährigen Tochter Marie geführt hat, freilich etwas handzahm aus. Gewiss, es gibt Nachfragen. Die Tochter ist nicht auf den Mund gefallen. Öfters ist sie witzig und sehr direkt. Sie ist realistisch. Sie formuliert salopp. Manchmal darf sie sogar widersprechen und den Philosophen-Vater glossieren und ironisieren. Aber in der Regel ist er doch der "maitre penseur", der unerachtet des Kultes, den er selber mit der Leidenschaft des Fragens und dem Ungenügen der vermeintlichen Antworten treibt, seiner Tochter sein Wissen vermittelt.

Das ist nicht wenig, wie sich in den vier Kapiteln des Buches zeigt: Über die Philosophie als die Suche nach den "wahren Ideen"; über den historisch epochemachenden Unterschied zwischen Weisheit und Gelehrsamkeit, Lebensphilosophie und strenger Wissenschaft; über den "Weg der Wörter" - Weg wohlgemerkt im Singular; schließlich über die "vielen Wege der Freiheit", Plural. Besonders das Kapitel über den "Weg der Wörter" ist dank dem Bonus der modernen französischen Linguistik seit de Saussure auch didaktisch gut geglückt. Sehr sympathisch die Einsicht, wie wichtig in der Philosophie die Gegner des eigenen Denkens sind. Aber das Buch bietet alles in allem doch mehr Philosophie-Monolog als Dialog. Die sechzehnjährige Tochter fungiert eher als Stichwortgeberin. Und fragt sie einmal "warum", so sagt er lieber "weißt du, warum?", um unverzüglich seine Antwort folgen zu lassen. Da hätte ein anarchisches Kind vermutlich weit mehr Fragen gehabt. "An dir ist es jetzt, deinen eigenen Weg zu finden", lautet immerhin das liberale pädagogische Schlusswort.


Titelbild

Roger-Pol Droit: Wie ich meiner Tochter die Philosophie erkläre.
Übersetzt aus dem Französischen von Hainer Kober.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
94 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-10: 3455095232

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