Vom Zögern der Dinge
In den 200 "Journalgeschichten" aus "Die folgenden Seiten" erweist sich Jürgen Becker einmal mehr als Meister des literarischen Minimalismus
Von Jens Zwernemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm Beginn von Jürgen Beckers "Die folgenden Seiten" steht der Plan zu einem literarischen Projekt: Es gilt, sukzessive die bislang nur mit Seitenzahlen bedruckten Blätter eines grün gebundenen Journals mit Schrift zu füllen und es so vor dem Schicksal all jener ungeschriebenen Bücher zu bewahren, die sich zu ganzen Bibliotheken der Unentschlossenheit und des Zögerns zusammentragen ließen. Also beschließt der Autor (der fiktive ebenso wie der reale), auf jeder der 200 Seiten eine neue "Journalgeschichte" zu verfassen - ein Kompositionsprinzip, zu dessen drucktechnischer Umsetzung sich der Verlag aufgrund der extremen Kürze der meisten "Geschichten" allerdings nicht recht entschließen konnte, so dass nun meist mehrere Einträge auf einer Buchseite versammelt sind.
Bald schon taucht ein Erzähler auf, der (zurecht) befürchtet, er werde wohl unterbeschäftigt bleiben, da es keinen Plot mehr gibt, den er zusammenhalten, geschweige denn vorantreiben könnte. Später gesellt sich noch ein Kommentator dazu, auf dessen Kommentare man aber vergeblich warten wird; und es gibt kurze Wiederbegegnungen mit Jörn Winter, der gegen Ende des Buches den Tod des Schmieds und Gastwirts Demuth aus dem Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999) verkündet. Ansonsten sind die Seiten vor allem mit literarischen Miniaturen gefüllt. Vieles findet sich da, was dem Leser, bzw. der Leserin, schon aus Beckers Lyrik und Prosa wohl vertraut sein dürfte: Von Äpfeln ist die Rede, von langsam absterbenden Obstbäumen, Bohnenstangen, Spreewaldgurken (diese ein Novum) und von der Wetterlage.
Es gibt "Geschichten", in denen vom Scheitern des Versuchs, eine Geschichte zu schreiben, berichtet wird, und solche, die nur aus Dialogfragmenten und Gesprächsfetzen unbekannt bleibender Sprecher bestehen. Historisches, wie Erinnerungen an Bombenangriffe und Arbeitslager, steht neben Gegenwärtigem, dem aktuellen Brötchenpreis etwa oder in den Wind geschlagenen Warnungen vor den Gefahren des Rauchens. Dazwischen finden sich immer wieder so genannte "Warteschleifen", auf den ersten Blick willkürliche Ansammlungen von Sätzen, die den Zusammenhalt des Buches in nuce vorführen: Wort- und Bildassoziationen, das Auftauchen und spätere Wiederaufnehmen von Motiven, Personen oder Themen sind es, die dem Band seine äußerst fragile Struktur verleihen. Am meisten überzeugen jedoch jene Einträge, in denen Becker literarische Momentaufnahmen präsentiert. Ein halb abgeräumter Frühstückstisch, pflaumenverzehrende Wespen oder eine Gartenleuchte mit Solarbetrieb werden zu Protagonisten von "Geschichten", in denen - fernab von jeglicher Handlung - Bilder dargestellt werden, aus denen sich der Wunsch des Erzählers, Maler oder doch zumindest Fotograf zu werden, ablesen lässt. Dabei scheint insbesondere das Zögern der Dinge, sich dem Betrachter ganz preis zu geben, einen besonderen Reiz auf Becker auszuüben und ihn anzutreiben, wieder und wieder zu den gleichen Motiven und Gegenständen zurückzukehren. Das Resultat ist ein "zögerndes Umreißen" wie es Peter Handke unlängst in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Hermann-Lenz-Preises an Becker nannte - eine Form der Beschreibung, die letztlich ebenso unabgeschlossen wie unabschließbar ist.
"Die folgenden Seiten" ist ein wohltuend unaufgeregtes aber keinesfalls unaufregendes Buch, das einmal mehr Jürgen Beckers Vorliebe für die Hintergründigkeit des scheinbar Alltäglichen demonstriert. Mag der Band im Kontext von Beckers Werk auch eher als Variation bereits bekannter Themen und Techniken denn als überraschende Neuerung gelten, so dürfte er trotzdem gerade bei Freunden des literarischen Minimalismus Becker'scher Prägung viel Anklang finden.
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