Karl Kraus hatte doch Recht

Simon Ganahl zeigt, wie lehrreich die Neuerfindung des Rades sein kann

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Ziel von Simon Ganahls Arbeit besteht darin, die Stichhaltigkeit von Karl Kraus' Pressekritik am Material zu überprüfen. Die Aufgabe ist also ebenso originell wie merkwürdig. Keine Arbeit zu Kraus' Werk hatte dies bislang unternommen - aber braucht es dies auch? Wer weiß. Wer sicherheitshalber einen Beleg in Form einer empirischen Untersuchung haben möchte, der kann nun zu Ganahls Studie greifen. Ganahl ging tatsächlich in die Pressearchive und nahm sich die Produkte von Kraus' Hauptgegner, der Wiener "Neuen Freien Presse", sowie von Kraus' wackeligem Verbündeten, der sozialdemokratischen "Arbeiter-Zeitung", vor. Wenn nicht die Neuerfindung des Rades, so doch der Beweis, dass das Rad sich tatsächlich dreht, dies findet sich in dem etwas ermüdenden und unübersichtlichen Kapitel III, wo das Material quantitativ ausgewertet präsentiert wird. Die beiden Kapitel davor und die beiden danach aber sind nicht nur lesenswert, sondern bieten auch Lesevergnügen. Der Zwang, eine Diplomarbeit im Fach Publizistik schreiben zu müssen, wurde also sinnvoll genutzt. Der Beweis, dass man mit dem Handwerkszeug einer quantitativen wie qualitativen Medienanalyse vertraut ist, wurde über die Beschäftigung mit einer der schärfsten und umfangreichsten Kritiken der Publizistik geführt.

In der Rekapitulation des Kraus'schen Kritikmodus in der ersten Hälfte bietet Ganahl nichts Neues; den Standard setzte und hält seitdem Irina Djassemys umfangreiche Studie "Der 'Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit'". Die Sekundärliteratur ist bei Ganahl bekannt und präsent. Er baut sie souverän ein, vor allem die, die was taugt, hält sich aber nicht lange mit ihr auf. Er kann es ebensogut wie sie, auch wenn er nur wiederholt. Aber angesichts der weit verbreiteten beliebten Vorurteile gegenüber Kraus ist es immer wieder gut, wenn eine Neuerscheinung das Mengenverhältnis zugunsten Kraus' verschiebt. Ganahl betont, dass Kraus' Kritik der Moderne kein konservativer Antimodernismus zugrunde liegt, dass dessen Kritik der Aufklärung weder zu einem ominösen 'Ursprung' Zuflucht nimmt, noch einen neuen Irrationalismus propagiert. Kritisiert wurde vielmehr die Dialektik der Aufklärung, dass also dasjenige an Aufklärung obsiegte, was die Aufklärung untergräbt. Kraus verteidigte gegen die fehlgegangene Aufklärung deren ursprüngliches Ideal. Auch Kraus' Kritik der 'Kommerzialisierung' der Literatur bedient nicht ein konservatives Ressentiment, das gegen den 'Händlergeist' wettert, wenn es von der Entwicklung einer Wirtschaftsweise bedroht wird, die es ansonsten protegiert. Es geht Kraus nicht darum, das Altehrwürdighergebrachte für sakrosankt zu erklären. Auch das Alte, die klassische Kultur, war Kraus nicht an sich, qua Herkunft, verteidigenswert, sondern nur dann, wenn sie seinen Ansprüchen genügte. Daran, dass die "Neue Freie Presse" sich der klassischen Kultur frei bediente, war nicht die Benutzung an sich schlimm, sondern das, wofür sie missbraucht wird: für die Verkümmerung selbständigen Denkens. Die von Kraus bekämpfte "Phrase" der Presse präsentiert eben nicht nur Tatsachen, sondern auch deren standardisierte Interpretation. Die Arbeit des Denkens, die die Presse ihren Lesern damit vorenthält, scheint in den Fetzen von Poesie und humanistischer Bildung, mit denen sie ihre Phrasen abmischt, präsent zu sein. Der Inhalt der klassischen Kultur ging dabei verloren und ihre Hülle nutzten die journalistischen Literaten dazu, eine Pose einzunehmen. Dass Kraus seine eigene Tätigkeit und seine Person gegen diese Literaten so sehr betonte, dies wird ihm als 'Egomanie' ausgelegt. Ganahl hingegen weist darauf hin, dass mit der öffentlichen Figur 'Karl Kraus' ein lebendes Beispiel für eine autonome Subjektivität demonstriert werden sollte, die ihre Identität gewinnt, nur indem sie "sich der Zeit entgegenstellt."

In der qualitativen Auswertung der "Neuen Freien Presse" und der "Arbeiter-Zeitung" begeht Ganahl, dessen eigene literarische Ambitionen zwischendurch aufblitzen, nicht den Fehler, Kraus nachzuerzählen oder gar nachzuahmen, wie so viele von dessen Epigonen. Die Analyse der rhetorischen Mittel beweist sprachlichen Witz und rhetorische Kompetenzen. Die "zahlreichen Fachbegriffe" und der "ausgeprägte [...] Hang zur Substantivierung" in der "Neuen Freien Presse" vermitteln einen Eindruck von "Hast". "Informationen drängeln, Sätze verdichten sich zu einzelnen Wörtern, die Nomen stehlen den Verben die Funktion, obwohl es keineswegs an Platz mangelt." Ganahl gelingt es, den Gebrauch und den Effekt von Sprache plastisch vorzuführen. Die Geisteshaltung des Journalisten materialisiert sich in dessen Artikeln. Gleicht sein Satzaufbau "jenem einer Armee, die sich hierarchisch in vier Ebenen gliedert und vom Generalstab kontrolliert wird", so spricht hieraus eine "Sprachdekadenz [...], die auf dem Widerwillen fußt, in Alternativen zu denken." Fallen auch "die betont regelkonformen Tempora" der Leitartikel auf, so unterlaufen "dem Antichristen" (Kraus' Name für Maximilian Harden, den Star der "Neuen Freien Presse") doch grammatische Fehler - und zwar bezeichnenderweise immer dann, "sobald er widersprechen muss." Das Unvermögen der Presseartikel, Gedanken in den Köpfen ihrer Leser entstehen zu lassen, wird in Ganahls Beschreibung der sprachlichen Konfiguration anschaulich: "Verbale und nominale Prädikatsteile, Attribute und Zwischensätze bilden Rahmen, in denen Gedanken versinken wie Schiffe auf uferlosem Meer, der Chance beraubt, am Gehirn anzulegen. Der Antichrist verschenkt Argumente, weil er deren Weg vom Blatt in die Köpfe verbaut."

Die "Destruktion der Klischees" dient nicht nur der Zerstörung des Unwahren, die "Läuterung verschmutzter Sprache" ist nicht nur quasi-erotischer Dienst am 'Weib Sprache', wie Kraus beispielsweise auch in Nike Wagners ansonsten empfehlenswerter Studie "Geist und Geschlecht" vorgeworfen wird. Die Demaskierung und Entlarvung bereitet nicht nur das Vergnügen der Denunziation, legt nicht ein Verstelltes bloß. Indem die Rhetorik von ihrer Aufgabe, Ornamente für die Pressephrase zu liefern, befreit wird, kann sie wieder "Möglichkeit der Sprachreflexion" werden. Im Gebrauch ihrer Mittel wird Sprache bewusst gemacht. Schreiben, so arbeitet Ganahl heraus, bewusstes Schreiben, ist "ein Medium, das imstande ist, persönlichen Widerstand zu generieren." "Wer bewusst schreibt, muss denken - und wer denkt, gehorcht nicht blind." Kraus, so betont auch Djassemy, leitete seine Leser sowohl durch die Entlarvung der Phrase der Presse wie durch seinen eigenen anspruchsvollen Stil zu aufmerksamem Lesen an, regte sie zur "Geistesarbeit" an. Was bei Djassemy als "Potential der Sprache" unbestimmt blieb, könnte von Ganahl weiterentwickelt worden sein. Die bloße - und gar nicht so simple - Achtsamkeit auf die Regeln der Sprache und der Grammatik fördert die Urteilskraft des Individuums. Sie ist also wesentlich mehr als nur ein beharrender konservativer Purismus in Zeiten von Oberflächlichkeit und Laxheit: "Sprache liefert die normative Grundlage schlechthin, den einzigen Gesetzestext, der strikt befolgt werden sollte, gerade weil jedes Zuwiderhandeln straflos bleibt." Die Sprache ist das Dasein herrschaftsfreier und gewaltloser Regel: wer ihr folgt, befreit sich - wer ihr nicht folgt, wird nicht bestraft. Sie streckt nur die Hand aus; die Entscheidung, ob sie ergriffen wird, liegt beim Individuum. Wer das Angebot ausschlägt, wird mit Dummheit geschlagen. Aber diese Unterwerfung gewährt das zweifelhafte Glück, dass man unter ihr nicht leidet.


Titelbild

Simon Ganahl: Ich gegen Babylon. Karl Kraus und die Presse.
Picus Verlag, Wien 2006.
199 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 385452496X

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