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Thomas Hettches Roman "Woraus wir gemacht sind"

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Amerika ist eine Obsession der deutschen Literatur. Es wimmelt bei Keller, Fontane und anderen von Auswanderern, die von Amerika staunend erzählen und doch wieder heimgekehrt sind. Überall finden sich in Erzählungen "Amerikamüde", die der Modernisierung der Verhältnisse, wie sie dort erfahrbar geworden ist, überdrüssig und müde geworden sind und in die Ruhe der Provinz heimkehren. Wenn Autoren deutscher Zunge ihre Helden nach Amerika schicken, dann widerfährt diesen selten Gutes. Sie begegnen einer fremden Welt, die sie irritiert und in der sie auffällig werden. Karl Mays Karl, späterhin Old Shatterhand, verblüfft Cowboys und Indianer mit alteuropäischem Wissen und stupender Dialektik und bleibt das "Original" in einer ihm fremden Welt. Kafkas Karl Rossmann nervt Onkel und Liftboy und schaut sich vom Balkon aus Unfälle an. Beiden gemeinsam ist der Zug nach Westen, also der Drang, in jene unendlichen Weiten vorzudringen und dort das Glück zu suchen.

Nun ist Niklas Kalf, Held des neuen Romans von Thomas Hettche, weder Karl Rossmann noch Karl Shatterhand. Und amerikamüde ist er auch nicht - zumindest nicht zu Beginn des Romans. Es ist eigentlich eine ganz banale Geschichte: Niklas Kalf ist mit seiner schwangeren Frau Liz nach Amerika gereist, um im Goethe-Haus in New York zu lesen und in Los Angeles erste Recherchen für die Biografie des deutschen Immigranten Ernest Meekatz zu unternehmen, der auf der Flucht vor Hitler an der Westküste gelandet ist. Kalf ist ein seltsamer Held, irgendwie eigenschaftslos und immer unbeteiligt. Er ist vielmehr ein Parasit, wie er gleich zu Beginn des Romans zugibt. Er ist einer, der sich in fremdes Leben einnistet, in die Haut eines anderen schlüpft, das Leben seines Wirtes schreibend lebt: "Das war sein Job. Wie auf eine Fertigkeit, für die man nichts kann, wie Schielen oder ein besonderes Gedächtnis für Zahlen, konnte er sich darauf verlassen, daß ihm dieses fremde Leben mit einem Mal vertraut und ganz nah war." Doch wie so viele Helden in Amerika löst er sich von dem, was war, oder wird dazu gezwungen, es zu tun.

Die Auflösung der Identität beginnt eigentlich schon mit der Ankunft. Kalf und seine Frau kommen nicht in Amerika an, sondern in einer "Twilight Zone", die sich zwischen der alten und der neuen Welt auftut. Amerika ist zunächst mal fremd, nur somnambul zu ertragen, ein Zustand mehr als ein Land. Folgerichtig beginnt die eigentliche Geschichte, die der Erzählung den Rahmen gibt, mit dem Aufwachen. Am 12. September 2002, also genau ein Jahr und einen Tag nach 9/11, erwacht Niklas Kalf nach einer unruhigen und wenig erholsamen Nacht im Hotelzimmer in New York. Er entdeckt, dass seine Frau Liz verschwunden ist. Bald darauf klingelt das Telefon, aus dem die Stimme einer Frau an Kalfs Ohr dringt. Die Botschaft ist leidlich unklar: Liz ist entführt. Wie üblich, wird vor dem Einschalten der Polizei dringlich gewarnt. Kalf weiß weder, wie ihm geschieht, noch, was er tun soll, geschweige denn, wie er Liz retten kann. Erst langsam verdichten sich die Hinweise, dass Liz' Entführung etwas mit seinem biografischen Projekt zu tun hat. Anscheinend muss in den Unterlagen von Eugen Meerkaz etwas Wichtiges und Brisantes verborgen liegen. Enthüllt er das Geheimnis, so wird er seine Frau und sein ungeborenes Kind wieder sehen. Doch immer ist noch nicht klar, was der Held überhaupt tun kann, um diese Aufgabe zu erfüllen. Es wird immer abstruser und verworrener im Leben des Niklas Kalf und damit in Hettches Roman. Die Geschichte entfernt sich immer weiter von ihrem Ausgangspunkt, Liz scheint vergessen bzw. der letzte Rest Hoffnung, sie wieder zu finden, von der heißen Sonne im Südwesten der Vereinigten Staaten verdorrt.

Hettches Romans erscheint als eine Erzählung, in der Entfremdung, Heimatlosigkeit und Verlust in ein Finale münden, das nicht Heimkehr verspricht, sondern Veränderung anzeigt. Der Protagonist entfernt sich von seinen Ursprüngen, von seinem europäischen Wurzeln, gar von seiner europäischen Identität. Er verändert sich, wundert sich über das Bild, das ihn im Spiegel anblickt, er ist nicht mehr derselbe. In dieser Figurenzeichnung lehnt sich Hettche an Karl Mays Karl Shatterhand an. Der Roman markiert die Veränderung durch zwei konkrete historische Daten. Da ist zum einen die Rede George W. Bushs im September 2002, die Hettche in seine thrillerhafte Anfangssequenz montiert und zum anderen ist - ein halbes Jahr später - da die Rede, die den Irak Krieg ankündigt. Gleichzeitig markiert die Rede im Frühjahr 2003 die wachsende politische Entfernung zwischen Amerika und Europa. Sie ist aber der Punkt in der Geschichte, an dem der Held seine Frau und sein mittlerweile geborenes Kind wieder findet. Nun ist dieses Wiedersehen aber kein Heimkommen, sondern ein neuer Anfang.

Der Roman Hettches ist eine Reise in das Innere Amerikas - eine Reise, die ihn durch endlose Weiten fahren lässt, in "denen der Sendersuchlauf des Radios unermüdlich durch das Frequenzband" eilt, in denen er "zweigeschossig mit Containern beladenen, kilometerlangen Waggonketten" der Union Pacific gegenwärtig wird. All diese "Agenten der Weite" sind natürlich auch Fundstücke aus dem ikonografischen Fundus. So erinnert die Beschreibung Hettches der landschaftlichen Weite an Sequenzen aus "Paris, Texas" von Wim Wenders. Hettches Erzählen produziert Bilder, die den Leser auf die Reise mitnehmen und ihm die Menschenleere Amerikas vor Augen führen. Die Grenze, die der Horizont markiert, ist gleichzeitig auch die Grenze seiner Wahrnehmung.

Es geht also um weit mehr als nur die Adaption eines filmischen Motivs. Nicht nur dadurch, dass Hettche sich des Films bedient; sondern auch, indem er mit literarischen Mitteln jene Stimmung erzeugt, die das Betrachten von Edward Hoppers Bildern zu entfachen in der Lage ist: jenes Gefühl der existentiellen Einsamkeit, das den Betrachter lange im Griff hat. Nur so kann auch ein Amerika-Roman des 21. Jahrhunderts funktionieren. Es ist die Detailversessenheit, die "Woraus wir gemacht sind" zu einem Lesevergnügen erster Güte macht. Man taucht in den Roman ein, man lässt sich mitnehmen von der Fülle und dem Reichtum der Eindrücke.

Neben diesen beiden Dimensionen verfügt der Roman noch über eine dritte, die die Geschichte des Protagonisten und die Geschichte der Landschaft miteinander verknüpft: Es ist das Motiv "Rom", das sich durch den Roman zieht und isoliert betrachtet keinen rechten Sinn ergibt; es sei denn, man hielte die Erwähnung für halbverdaute Lektüre von Antonio Negris und Michael Hardts "Empire" oder von Herfried Münklers "Imperien". Nein, vielmehr funktioniert "Rom" als Verknüpfung der Auflösung eines individuellen und kulturellen Gedächtnisses mit der geopolitischen Dimension des Romans. Denn schließlich ist die Frage nach der Geschichtsschreibung immer mit der Frage nach der Zukunft des Imperiums verknüpft; die historische Dimension ist Bedingung der geopolitischen. Ausbreitung im Raum korrespondiert eine Ausweitung in der Zeit, ein Sujet, das schon Vergil und seinen Herrscher Augustus in ihren Gesprächen beschäftigt hat.

Die Frage also, woraus "wir" gemacht sind, beantwortet der Roman nicht, aber er stellt sie auf eine verblüffende Art und Weise neu. Die Antwort wird mit jeder Lektüre variieren, doch eines ist sicher: Die Antwort ist ohne die Bilder von Amerika, ihrer mythischen und traditionsstiftenden Kraft nicht zu haben.


Titelbild

Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3462037110

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