Karussellfahrten zwischen Traum und Wirklichkeit

Armin Mueller-Stahl präsentiert Kurzgeschichten

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Kettenkarussell steht im Mittelpunkt einer von insgesamt zehn Erzählungen unterschiedlicher Länge, die der Schauspieler Armin Müller-Stahl in einem Buch zusammengetragen hat. Im sprichwörtlichen Sinn wurde früher "Karussell fahren" in dem Sinn benutzt, dass man jemand heftig rügt. Beim Militär bezeichnete man mit diesem Ausdruck den Vorgang, wenn Soldaten um den Exerzierplatz gejagt wurden.

Bei Armin Mueller-Stahl wird das Kettenkarussell hingegen in einem anderen Zusammenhang zum Einsatz gebracht: Es wird zur Fluchthilfe benutzt. Die Karussellfahrt, verbunden mit ihrem fingierten tödlichem Ende, dient zur Rettung von drei jungen Juden. Der Illusionskünstler Ernst Machuleit ermöglicht seinen ehemaligen Klassenkameraden, dem Chirurgen Eduard Howald, dem Rechtsanwalt Jakob Löwenstein und dem Journalisten und Poeten Jurek Magath, in der NS-Zeit die Flucht aus dem Deutschen Reich in die Schweiz. "Kettenkarussell" ist die umfangreichste Erzählung des Bandes.

Sie bündelt zentrale Motive und offenbart die vornehmlich angewandte Erzähltechnik der Grenzüberschreitung. "Der Alptraum des Schlafes" wird konfrontiert mit dem noch schlimmer wütenden "Alptraum des Lebens" mit den ständigen Abtransporten von jüdischen Mitbürgern. Der Lebensretter Machuleit "hatte sich der Magie verschrieben, dem Transport vom Sinnlichen ins Übersinnliche, vom Leben zum Tod, und vom Tod zum Leben, darin hatte er sich perfektioniert, Menschen verschwinden und wieder auftauchen, ja sogar Menschen sterben und wiederauferstehen zu lassen." Nebel ist für einen Protagonisten "der Inbegriff der Poesie, die Konturen sind nicht so scharf, man muß erfinden, mitsuchen, man blickt in kein grelles Tageslicht. Wir holen unsere Sünden aus dem Nebel, wo wir sie geflissentlich versteckt gehalten hatten."

Aufbauend auf diese Anschauung gestaltet Mueller-Stahl seine Geschichten mit bewundernswertem Ideenreichtum. Auch wenn sich zuweilen Klischee-Bilder eingeschlichen haben - etwa, wenn der Lebensretter vor seinen jüdischen Freunden steht "wie ein Heiliger, ein großer, schöner Mann im langen schwarzen Mantel" - so kann der Erzähler insgesamt überzeugen, vor allen Dingen auch durch den Perspektivwechsel und die Art und Weise, wie er sprachgewandt in seine Figuren schlüpft und ihnen die passenden Äußerungen in den Mund legt. Den meisten Erzählungen sind von einer melancholischen Stimmung geprägt. Mit Wehmut wird beispielsweise an die Eltern erinnert, die eine "vorbildliche Ehe" führten und bürgerliche Tugenden verinnerlicht hatten. Auf die Frage, weshalb sie nach dem Tod ihres Mannes keine Trauer zeigt, antwortet die Mutter: "Ihn hierzuhaben wäre mein Glück, aber im Himmel zu sein ist sein Glück."

Mueller-Stahl liebt es, skurrile Personen in absurde Situationen zu stellen. Eine Psychotherapeutin wird mit dem Tod ihres Geliebten konfrontiert, der bei einem Aufsehen erregenden Stunt ums Leben gekommen ist. Zwei Totengräber beerdigen bei strömendem Regen einen Schuldirektor, unterhalten sich über Veränderungen auf dem Feld der Pädagogik und erkennen, weshalb die Trauernden ausbleiben: "Kommt ooch keener, nich bei so'n Wetter. Die komm' nur noch bei schönem Wetter - oder wenn Fernsehen dabei ist." Aus der Ich-Perspektive wird die Geschichte des Priesters erzählt, auf den stets die Krankheiten der Personen übergehen, die bei ihm im Monat Mai Trost suchen: "Auf diese Weise bin ich einen großen Teil meiner Innereien losgeworden. Mandeln, Blinddarm, Galle, etwas Leber, etwas Lunge, etwas Knie, etwas Hüfte, zwei Backenzähne, zwei Schneidezähne. Ich habe Ischias, Migräne, Augenzucken, alle Leiden der Leute, die im Mai zu mir kamen und die glücklich und gesund wieder von mir gingen".

Der Priester vermeidet daher jahrelang das Zusammentreffen mit Leuten in seinem Geburtsmonat Mai. Als er sich dann doch wieder einmal entschließt, seinen Geburtstag im Mai zu feiern, kommt er mit einer Frau ins Gespräch, deren neun Monate alte Tochter im Krankenhaus liegt, weil sie sonst "die Automatik des Atems vergäße". Man kann sich vorstellen, wie die Geschichte weiter geht.

Aber nicht alle Geschichten bieten einen Abschluss, zuweilen bleibt - wie beim Zaubertrick mit dem Karussell - das Rätsel ungelöst. Die Erzählung mit dem Titel "Die eiserne Möwe" bietet eine eindringliche Charakterstudie. Der "kleine, gewölbte Mann", dessen Körper "durch ein Korsett gehalten wird", bewegt sich "mechanisch, eckig und überaufrecht, als würde er von einem Motor angetrieben", weshalb alles an ihm "technisch, gesteuert, erfunden" wirkt. Die weißen Möwen, die an seinem Fenster vorbeistürzen, wollen offenbar signalisieren, "dass es auch für ihn an der Zeit wäre, die Anziehungskraft der Erde ausnützend, die Lebensgrenze zu überschreiten." Und er versteht ihre Botschaft: "Wie eine Katze im Sterben ins Unsichtbare kriecht, kriecht er mit seinem lächerlichen Sterben ins Dunkle, ins Unsichtbare, denkt er, ins Faschingskostüm, verwandelt in eine Möwe."

Wie dumm ist ein mittelloser Student, der eine mit einem hohen Geldbetrag gefüllte Krokodilledertasche als ehrlicher Finder bei der Polizei abliefert? Ist ihm sein "ruhiges Gewissen" ein lebenslanger Trost? Anklänge ans Kafkaeske liefert die Geschichte von "Pohsner und Passmann", in der sich der Protagonist beharrlich gegen die Änderung seines Namens wehrt, die "wegen der Rechtschreibreform" angeordnet wurde. Er wird schließlich von dem Regierungspräsidenten und vier Polizisten "mit versteinerten Mienen" in seiner Wohnung abgeholt. Er folgt ihnen, lediglich mit dem Bademantel bekleidet, da er "keine Zeit verlieren" möchte und "zu gespannt" ist, "wie es weitergeht".

In vielen Geschichten vermengt Mueller-Stahl gekonnt die reale mit der surrealen Ebene. Er skizziert mit Vorliebe groteske Situationen und Absurditäten und kritisiert beiläufig mal mit sanftem Humor, mal mit sarkastischen Anklängen den Bürokratismus und die Widrigkeiten des Alltags. Die Texte zeigen, dass der Verfasser über Witz und Sprachgefühl verfügt. Der Aufbau Verlag beansprucht für seinen Autor Armin Mueller-Stahl "einen Platz in der vordersten Reihe der zeitgenössischen Prosadichter" und bezeichnet ihn als einen "begnadeten, sprachgewandten Erzähler". Auch wenn man diese Klassifizierung zum Zweck der Werbung für das Buch eventuell als zu hoch gegriffen empfinden mag, so kommt man nicht umhin, den anregenden und anspielungsreichen "Kettenkarussell"-Geschichten ein breites Lesepublikum zu wünschen. Es ist bewundernswert, wie das kreative Multi-Talent Mueller-Stahl sich künstlerisch nicht nur als Schauspieler und Regisseur, sondern auch als Geiger, als Maler und als Schriftsteller betätigt. Denn alle Arbeiten des international renommierten Darstellers in den unterschiedlichen Bereichen der Kunst zeigen Eigenständigkeit und ein hohes Niveau.


Titelbild

Armin Mueller-Stahl: Kettenkarussell. Erzählungen.
Aufbau Verlag, Berlin 2006.
156 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3351030835

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