Mut zur Wahrheit

Anja Rützel widmet sich in „Lieber allein als gar keine Freunde“ der Einsamkeit und zelebriert das Alleinsein

Von Romy TraeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Romy Traeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon die ersten zwei Seiten von Lieber allein als gar keine Freunde haben es in sich: Wenn Anja Rützel vom Tod ihres Hundes Figo erzählt, lässt einen die schonungslose Beschreibung (selbst wenn man Hunde nicht einmal besonders mag) nicht kalt und führt unter Umständen zum einen oder anderen Tränchen – man wäre fast versucht, „Pipi in den Augen“ zu schreiben, wenn nicht Frau Rützel unlängst auf Twitter erklärt hätte, dass sie sich „vor der grauenvollen Formulierung“ ekele.

Sie sind auch der Auftakt zu einer Selbstfindungsreise, denn als nach dem Hund auch der beste Freund stirbt („Und ich merkte, dass man erst dann wirklich, aufrichtig allein ist, wenn man niemandem mehr davon erzählen kann“), beschließt sie der Einsamkeit auf den Grund zu gehen – aber nicht nur ihrer persönlichen, sondern dem Gefühl an sich und dessen „Imageproblem“ – so der Titel des zweiten Kapitels – wissenschaftlich, mit Studien untermauert, Recherchen in Philosophie und Geschichte inbegriffen, aber nie ohne ein Augenzwinkern („Eigenbrötler-Posterboy Arthur Schopenhauer“), erfrischend und ehrlich. Denn sich einzugestehen, dass man „da reingeschliddert“ ist in die „Freundesversickerung“, dass man es hätte merken können, wenn man beginnt „in GUTE, extra-komfortable Jogginghosen zu investieren“, ist nicht leicht. Beim Lesen lässt sich mitverfolgen, wie aus einem fast schon trotzigen „Einsam, das waren doch die anderen, ich bin bestenfalls alleine. Und zwar, weil ich das so möchte, das glaubte ich fest“ die Erkenntnis erwächst, dass da doch irgendetwas anders ist als bei den anderen. Dass man das irgendwann akzeptieren kann (und sollte) und folglich der Hauptzustand „alleinsam“ heißt, denn die Wertungen und Gewichtungen, die den Worten „allein“ (schon okay) und „einsam“ (ganz schrecklich) anhängen, stören. Schließlich benutzt sie neben ihrer Neuwortkreation die Begriffe „allein“ und „einsam“ quasi synonym, „weil ich beschlossen habe, nicht mehr damit mitzumachen, die Einsamkeit als Finstergefühl zu stigmatisieren.“

Der Weg dahin führt Rützel und die Leser über viele Fakten zu Spezialthemen wie Eremitendasein, inklusive Aufzählungen ihrer „fünf liebsten Heiligen-Eremiten („die alle rein zufällig zwar keine Lust auf Menschen, dafür aber loyale Tierfreunde hatten“) oder die „elf liebsten Einsamkeitslieder“ (mit einer grandiosen Umdeutung des ABBA-Hits The Day Before You Came). Sie macht einen wunderbaren Vorschlag, wie man das Kennenlernen von neuen Bekanntschaften erleichtern könnte: Analog zu den Materialien und Erläuertungsheftchen aus dem Deutschunterricht, sollte es einfach ein Booklet über sich selbst geben, in ihrem Fall „eine Rützelbroschüre mit reichlich Fußnoten, die ich den neuen Interessenten zum Selbststudium in die Hand drücken könnte“. Wenn das mal keine gute Idee für einen Pitch bei „Die Höhle der Löwen“ wäre!

Im Kapitel „Rützel probiert es wenigstens“ beschreibt sie ihre wirklich ernsthaften Versuche, Anschluss zu finden, was man als Leser mit einer Mischung aus Faszination, Belustigung und Mitleid begleitet, wenn sie etwa einen Volkshochschulkurs „Aufbaukeramik am Vormittag“, Mal-Abende, einen Survival-Workshop oder Jodelkurs besucht. Zwar lernt sie nach eigenem Bekunden „allerhand nützliche Dinge“, aber der Kontakt zu anderen will nicht recht gelingen. Echte Freundschaften waren zwar nie die Absicht, denn, so schlussfolgert sie im nächsten Kapitel „Finger weg von meiner Kauzigkeit!“, eigentlich kommt sie mit dem Alleinsein ganz gut klar. Dass aber niemand den Versuch startete, sich mit ihr anzufreunden, führt zu Grübeleien, wann genau eigentlich das letzte Mal jemand Neues in ihr Leben trat (Spoiler: Es ist schon länger her), und von da aus direkt in die Ratgeberecke des Buchladens – aus reiner Neugier selbstverständlich. Die Ergebnisse dieser Ratgeberrecherche sind genauso witzig wie erhellend, bringen sie in Bezug auf ihr Problem zwar nicht weiter, aber immerhin den Blutdruck „ganz okay in Schwung“ und führen zur Erkenntnis, dass „es nicht ein einziges Buch [gab], das seinen Leserinnen und Lesern helfen wollte, das Alleinsein mit einem neuen, positiven und konstruktiven Blick zu sehen“. Das hat sie dann eben selbst geschrieben.

Dass Einsamkeit so stigmatisiert wird, findet die Autorin problematisch, denn:

Verbringe ich gerne und viel Zeit alleine in meiner Wohnung, finden Menschen das komisch. Würde ich mit demselben Zeitaufwand alleine den Atlantik überqueren, fände man das bewundernswert. Das Alleinheitskontingent wäre bei beiden Aktivitäten dasselbe. Warum muss ich es mit sinnlosem Aktionismus aufladen, damit niemand die Augenbrauen darüber zerfurcht?

Denn schließlich, und das mutet schon beinahe philosophisch an, ist „es unmöglich, jemals wirklich vollständig mit einem anderen Wesen verbunden zu sein, weil man nicht in seinem Hirn, seinem Bewusstsein sein kann. Der Kern unseres Wesens ist nicht teilbar. Es gibt Grenzen der Verbundenheit, das müssen auch die ärgsten Kitschbarone und Schmusesymbioten einsehen.“

Sie plädiert also dafür, dass auch Menschen in Beziehungen ab und an Zeit mit sich verbringen, allein ins Restaurant („Restaurantbesuche sind für Einzelpersonen so etwas wie die Königsdisziplin des Single-Fünfkampfs“) und Kino zu gehen oder gar ohne den Partner in den Urlaub zu fahren (auch wenn das zu Fragen im Freundes- und Familienkreis führen könnte). Die sozialen Medien als Einsamkeitsbekämpfer sieht sie indes etwas kritisch, nicht so sehr wegen der Technik an sich, sondern wegen der Nutzer, und schließt sich selbst schonungslos ein. Wenn sie mit feiner Beobachtungsgabe beschreibt, wie sich freut, wenn einer ihrer Posts auf einem der Social-Media-Kanäle einige Likes erhält, und sich gleichzeitig darüber ärgert, dass sie sich darüber freut – dann fühlt man sich einerseits ertappt (denn mal ehrlich, wer kennt das nicht?) und ist andererseits beeindruckt, dass die Autorin hier und an vielen anderen Stellen im Buch ihre eigenen Gedanken so offenlegt. Sie versucht nicht, die beste Version von sich selbst zu präsentieren, sondern zeigt sich selbstkritisch und authentisch. 

Letztendlich kommt sie zu der Erkenntnis, „dass es Geduld und Übung braucht, die Zeit mit sich alleine schätzen zu lernen. Aber dass es praktisch unmöglich ist, wirklich einsam zu sein, wenn man sich selbst Gesellschaft leistet.“ Das Ganze gipfelt im wunderbaren Schluss: Auch wenn „es ungewohnt ist, die eigene Einsamkeit zu umarmen, liebevoll zu betrachten, das bedrohliche Gefühl unterzuhaken und zu schauen, was man denn gemeinsam so anstellen könnte. Es lohnt sich, sehr.“

Wer andere Texte von Anja Rützel kennt, wird sie hier neu entdecken, aber auch wiedererkennen – schon aufgrund solch herrlicher Aussagen wie: „Denn manchmal sind auch jahrelang gepflegte Freundschaften plötzlich nur noch die sechste Staffel einer TV-Serie, die man seit der vierten schon nicht mehr schaut, weil öde.“ Wer die Autorin bisher noch nicht kannte, wird sie vermutlich nach der Lektüre des Buches mögen, denn wie kann man jemanden nicht mögen, der sein Buch über die Einsamkeit ganz konsequent mit der Widmung: „Für mich“ schmückt?

Titelbild

Anja Rützel: Lieber allein als gar keine Freunde.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
271 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783596297771

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