Am Point of no Return?

Judith Schalansky denkt in ihrem Essay „Schwankende Kanarien“ darüber nach, wie man von der Klimakrise erzählen kann

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Können wir uns eine Welt vorstellen, in der es keine zwitschernden Vögel mehr gibt, die mit ihren morgendlichen Rufen den Frühling ankündigen oder deren aufgeregtes Ziepen einem Gewitter vorausgeht? Welche Bilder gibt es für eine Welt, die uns Menschen nicht mehr als Lebensgrundlage dienen kann? Wie kann man davon erzählen? Das sind Fragen, die die Autorin Judith Schalansky in ihrem Essay Schwankende Kanarien umtreiben. Damit schließt sie an Untersuchungen wie die des britisch-indischen Autors Amitav Ghosh Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare aus dem Jahr 2017 an. Wie Schalansky so sieht auch Ghosh die Notwendigkeit eine in der Gegenwart angesiedelte climate fiction zu entwickeln. Dieser Forderung stellt er – ähnlich wie die deutsche Autorin – die Schwierigkeit gegenüber, von Katastrophen, die durch die Veränderungen des Klimas ausgelöst wurden, zu erzählen und damit auch den Klimawandel selbst zum Thema von Romanen zu machen. Allerdings handelt es sich bei Schalansky nicht um ein 250seitiges Buch, mit viel Raum für Beobachtungen und Beispiele, sondern um einen kunstvoll komponierten Essay mit rund 35 Seiten. Auf diesen entwickelt die Autorin ein dichtes Netz an Überlegungen zum Erzählen im Anthropozän. Im Unterschied zu dem einige Jahre zuvor erschienen Band von Ghosh ist die Zeitdiagnose von Schalansky allerdings radikaler. Sie erkundet nicht nur, wie der Klimawandel erzählt werden kann, sondern stellt zugleich die provokante Frage, wann wir den Point of no Return erreichen bzw. ob wir ihn nicht bereits unbemerkt überschritten haben – eine Beobachtung, die nicht neu ist. Haben doch Luisa Neubauer und Alexander Repenning 2019 in Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft mit dem Tauen des arktischen Permafrostbodens schon den Kipppunkt ausgemacht. Schalansky findet ihre Hinweise auf den Point of no Return einerseits in der Sprache: Die Verwendung des Begriffs Anthropozän selbst weist auf die Wahrnehmung einer grundlegenden Veränderung hin, ein anderes Indiz sieht sie beispielsweise im Fischsterben in der Oder im August 2022:

Irgendwo war von Schadensbegrenzung die Rede, aber ich wünschte mir ein Gesicht, eine Figur, einen Helden, der rettete, nicht reparierte – einen Experten […], einen slightly mad scientist, der sich auf die Seite der Guten geschlagen hatte und dessen Messungen und Experimente bahnbrechende Erkenntnisse zu Tage förderten, die nicht nur den Erstickungstod von Menschen verhinderten, sondern auch den von Süßwasserfischen und Muscheln. Tausend Tonnen toter Fisch, das war apokalyptisch. Aber da war kein Weltenbrand. Es fing sogar an zu regnen. Es ging einfach weiter.

Die Wissenschaft wird hier als letzter Rettungsanker imaginiert. Die wage Hoffnung formuliert, dass es vielleicht doch noch einen Forscher geben könnte, der die Angst vor der Klimakrise nehmen kann, indem er eine Möglichkeit findet, den Schrecken der Zukunft zu begegnen. Dass das eine Utopie ist, hat Schalansky bereits erkannt. In einer Welt, die nicht in der Lage ist, die apokalyptischen Zeichen der Natur zu lesen und auf sie zu reagieren (eine Beobachtung, die auch Luisa Neubauer mit Entsetzen konstatiert), ist die Katastrophe wohl kaum mehr abwendbar. Dass wir uns nicht einmal in Anbetracht der bereits beobachtbaren Auswirkungen der Klimakrise die Welt nach dem Kipppunkt nicht vorstellen können, entbindet Autorinnen und Autoren nicht von ihrer Aufgabe als Seismographen der Gesellschaft Fiktionen zu entwickeln, die vor der Bedrohung warnen. Doch wenn die Literatur als Frühwarnsystem versagt hat, kann sie dann tatsächlich den Kipppunkt noch verhindern?

Das titelgebende Bild des Kanarienvogels entlehnt Judith Schalansky der englischen Sprache. Was bei uns gerne mit dem metaphorischen „fünf vor zwölf“ umschrieben wird, wird im Englischen mit der idiomatischen Redewendung „canary in a coal mine“ bezeichnet. Mit diesem sprachlichen Bild, so Schalansky, ist eine Geschichte verbunden, wie sie es für die Klimakrise nicht gibt. Der schottische Physiologe John Scott Haldane – und mithin ein Wissenschaftler, der auch unkonventionelle Wege beschritt, – suchte in den 1890er Jahre nach den Ursachen für Unglücke in britischen Bergwerken. Anhand der Blutwerte von in der Grube gestorbenen Arbeitern und Pferden entdeckte er, dass sie nicht an Sauerstoffmangel, sondern an einer Vergiftung mit Kohlenmonoxid gestorben sind. In der Folge wurden Kanarienvögel mit in die Grube genommen. Wenn die Kanarien zu zwitschern aufhörten, zu schwanken begannen, dann war der Moment nicht weit, an dem sie tot von der Stange fielen. Dies war das Zeichen für die Arbeiter, dass sie schnellstmöglich an die Oberfläche zurückkehren mussten, um nicht auch an dem unsichtbaren Gas zu sterben. Der Kanarienvogel als Frühwarnsystem zeigte somit den Moment an, der dem Kipppunkt vorausging und an dem noch eine Rettung möglich war. Der noch bis kurz vor seinem Tod in unwirtlicher Umgebung zwitschernde Vogel ist nicht nur Zeichen einer pervertierten Natur, sondern wird auch in Analogie gesetzt, zur Aufgabe, der sich Autorinnen und Autoren aktuell gegenübersehen: Sie erzählen in auswegloser Lage gegen die drohende Katastrophe an. Wie eine solche Falle aussehen kann, zeigt auch Schalansky selbst: Die Geschichte des Physiologen Haldane gibt ihr die Möglichkeit, die Geschichte um die Redewendung auszuschmücken und somit von einer gebannten Gefahr zu erzählen.

Schwankende Kanarien wurde im vergangenen Jahr mit dem WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte ausgezeichnet. Der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn hebt in seiner ebenfalls sprachlich brillant verfassten Laudatio hervor, dass Schalansky das wichtigste Rüstzeug der Literatur ganz hervorragend beherrscht: die Selbstbefragung. Weshalb sie auch unzweifelhaft erkennt, dass der verklärte Blick auf die Natur, dass Natur selbst kein Gegenstand des Erzählens sein kann – so wenig, wie der Kanarienvogel in der Grube noch als Natur zu bezeichnen ist.

Judith Schalansky hat sich bereits mit ihrem 2018 erschienenen Band Verzeichnis einiger Verluste den verlorenen Dingen verschrieben. Von dem verhallten Echo über eine ausgestorbenen Tigerart oder eine verschwundenen Pazifikinsel bis hin zu den Leerstellen ihrer eigenen Kindheit spürt sie großen und kleinen Verlusten in der Geschichte des Planeten nach. Es bleibt zu hoffen, dass Judith Schalansky mit ihrer Diagnose nicht recht behalten wird und wir den Kipppunkt noch nicht erreicht haben. Anders als für die Arbeiter in der Grube gibt es für uns keinen Ausweg. Wird die Literatur als Frühwarnsystem nicht ernst genommen, gibt es für den Homo sapiens schon bald einen Eintrag im Verzeichnis der Verluste.

Titelbild

Judith Schalansky: Schwankende Kanarien.
Verbrecher Verlag, Berlin 2023.
96 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957325648

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