Begründer der poetischen Romantik und der modernen Literaturwissenschaft

Zum 250. Geburtstag von Ludwig Tieck

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein Schriftsteller war ein Zeitgenosse so vieler Epochen wie Ludwig Tieck, von der Spätaufklärung über Frühromantik, Klassik, Spätromantik, Biedermeier, Vormärz bis zum Frührealismus. Ebenso umfangreich und vielfältig war sein literarisches Schaffen: Bühnenstücke, Gedichte, Romane, Novellen und Märchen; außerdem war er als Übersetzer und Herausgeber tätig. Er reagierte sein Leben lang auf alle wichtigen geistigen und künstlerischen Anregungen seiner Zeit. Über ein halbes Jahrhundert hat Tieck das Gesicht der deutschen Literatur wesentlich mitbestimmt. Trotz dieser Vielfalt und Produktivität ist jedoch eine Vernachlässigung seines Werkes zu beklagen; so gibt es bis heute keine kritische Gesamtausgabe seiner Schriften. Die unbefriedigende Situation charakterisierte der Literaturwissenschaftler und Tieck-Kenner Achim Hölter mit den Worten: „Tiecks Nachleben wird auf fast beispiellose Weise zugleich von Beliebtheit und Vergessenheit charakterisiert.“

Ludwig Tieck wurde am 31. Mai 1773 in Berlin als erstes Kind des Seilermeisters Johann Ludwig Tieck und seiner Ehefrau Anna Sophie geboren. Der patriarchalischen Strenge des Vaters, der aber für Ansehen und bescheidenen Wohlstand der später fünfköpfigen Familie sorgte, stand die Milde und Frömmigkeit der Mutter entgegen. In der eher kleinbürgerlichen Familie legte man jedoch Wert auf die Bildung der Kinder, außerdem wurden Literatur und Theater gepflegt, sodass der kleine Ludwig schon mit vier Jahren zu lesen begann. Von 1782 bis 1792 besuchte er das aufklärerische Friedrichwerdersche Gymnasium. Zu seinen Mitschülern gehörten Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) und Wilhelm von Burgsdorff (1772-1822), die beide in seiner Biographie noch eine bedeutende Rolle spielen sollten. Außerdem hatte er Kontakt zum Haus des Schriftstellers und Komponisten Johann Friedrich Reichardt. Zu den bestimmenden Lektüreerlebnissen des Gymnasiasten gehörten neben Goethe vor allem Shakespeare und Cervantes, die ihn bis an sein Lebensende fesseln sollten. Bald entstanden auch erste literarische Versuche, wobei Klinger, Goethe und Schiller die Vorbilder waren.

Im Frühjahr 1792 begann Tieck auf Wunsch seines Vaters ein Theologiestudium an der Universität Halle, besuchte aber vorrangig Vorlesungen der Altphilologie, Philosophie und Literatur. Im November des Jahres wechselte er an die Universität Göttingen. Hier lehrten berühmte Professoren wie Gottfried August Bürger, Georg Friedrich Lichtenberg oder Christian Gottlieb Heyne. Außerdem verfügte die Universitätsbibliothek über umfangreiche Bestände an englischer und spanischer Originalliteratur. Aber bereits ein paar Monate später ging er mit seinem Freund Wackenroder für ein Semester an die Universität Erlangen, danach folgten noch zwei Semester wieder in Göttingen. Gemeinsam unternahmen sie zahlreiche Reisen, u.a. nach Bayreuth oder Nürnberg. Die beiden jungen Wilden hielten jedoch nichts von einem weiteren Studium, sie wollten die Poesie feiern. Im Mai 1794 brach Tieck schließlich das Studium ab. Neben einer Rittergeschichte und zwei Shakespeare-Aufsätzen waren während der Studentenzeit auch erste Übersetzungen entstanden, so eine Prosafassung von Shakespeares Sturm.

Nach dem Abbruch des Studiums kehrte Tieck über Braunschweig und Hamburg nach Berlin zurück. Hier fasste er den folgenreichen Entschluss: Berufsschriftsteller. Zielgerichtet ging er an die Gründung einer Schriftstellerexistenz. Eine eigene Wohnung machte ihn vom Elternhaus unabhängig. In den folgenden Jahren verfasste er (teilweise unter verschiedenen Pseudonymen) zahlreiche Erzählungen (u.a. Abdallah (1796) oder Die Geschichte von den Heymonskindern (1796)), die durch den Berliner Verleger und bekannten Vertreter der Spätaufklärung Friedrich Nicolai (1733-1811) in dessen Buchreihe Straußfedern publiziert wurden. Daneben entstanden der Briefroman Die Geschichte des Herrn William Lovell (1796), der Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) und der Roman Peter Lebrecht – Eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten (1776), mit denen Tieck in das Blickfeld der literarischen Öffentlichkeit rückte und die die Anfänge der literarischen Romantik in Deutschland markierten. Der Dramatik wandte er sich ebenfalls zu; ein Interesse, das ihn zeitlebens begleitete. Von seinem Dramenschaffen erreichten allerdings nur die beiden frühen Stücke Der gestiefelte Kater (1797) und Ritter Blaubart (1797) eine gewisse Bekanntheit. Ihre Uraufführung erfolgte erst Jahrzehnte später.

In diese Berliner Jahre fiel auch der Beginn der Freundschaft mit den Brüdern Friedrich (1772-1829) und August Wilhelm Schlegel (1767-1845); weitere wichtige Bekanntschaften machte er in den Salons von Henriette Herz oder Rahel Levin (verh. Varnhagen) – u.a. mit dem Bildhauer Johann Gottfried Schadow, dem noch unbekannten Daniel Friedrich Schleiermacher oder den Brüdern Wilhelm und Alexander von Humboldt. 1796 verlobte sich Tieck mit Amalie Alberti (1769-1837), der Tochter des Hamburger Theologen Julius Gustav Alberti. Ein Jahr nach der Heirat 1798 wurde die Tochter Dorothea (1799-1841) geboren. 1802 folgte die zweite Tochter Agnes (1802-1880).

Im Oktober 1799 verließ Tieck seine Heimatstadt; für mehr als vier Jahrzehnte (abgesehen von gelegentlichen Besuchen) kehrte er Berlin den Rücken. Die junge Familie siedelte nach Jena über, wo sich um die Brüder Schlegel ein literarischer Kreis der Frühromantik zusammengefunden hatte, dem auch Friedrich von Hardenberg (Novalis, 1772-1801), Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) sowie Dorothea Schlegel (1764-1839) und Caroline Schlegel (1763-1809) angehörten. Mit allen pflegte Tieck Kontakt, besonders intensiv war die Beziehung zu Novalis. Trotzdem war Jena nur eine kurze Episode. Nach 1801 löste sich die Gruppe langsam auf. Das hatte verschiedene Gründe: die Enttäuschung über die französische Revolution, die mit der Machtübernahme Napoleons endete, der Tod von Novalis am 25. März 1801, das fehlende Interesse, die gemeinsame Zeitschrift Athenäum fortzusetzen, und letztendlich auch die persönlichen Befindlichkeiten der Mitglieder und die daraus resultierenden Zerwürfnisse zwischen ihnen. Das wichtigste literarische Ergebnis der Jenaer Jahre war die Cervantes-Übersetzung Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quijote von la Mancha (1799/1800), die neben A.W. Schlegels Shakespeare- und Calderón-Übertragungen zu den überragenden Übersetzerleistungen der Frühromantik gehört.

Nachdem Tieck Jena verlassen hatte, begann für ihn ein unstetes Wanderleben mit häufig wechselnden Aufenthaltsorten. Zunächst ging er über Hamburg nach Dresden, wo er mit jüngeren Romantikern wie Achim von Arnim und den Malern Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich in Kontakt kam. Dresden bot jedoch keine Gelegenheit für einen dauerhaften Lebensunterhalt. Da kam die Einladung seines Jugendfreundes Wilhelm von Burgsdorff gerade recht. Auf dessen Landgut in Ziebingen (heute das polnische Cybinka) lebte Tieck mit seiner Familie nahezu zwei Jahrzehnte. Die erste Dekade war jedoch überschattet von einer Schaffenskrise und finanziellen Problemen. So war der Versuch, mit Unterstützung von Clemens Brentano, in Heidelberg einen Lehrstuhl für Literatur zu erhalten, fehlgeschlagen.

Dazu kamen Gerüchte über eine Liebesbeziehung zwischen Amalie Tieck und Burgsdorff, der vermutlich Tiecks Tochter Agnes entsprang, die er jedoch als sein Kind anerkannte. Zusätzlich belastete ein Verhältnis von Tieck mit Henriette Finck von Finckenstein (1774-1847) die Ehe. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Tochter seines Gönners Karl Graf Finck von Finckenstein (1745-1818) für ihn eine Muse und später seine Mäzenin. Tieck entzog sich dieser belasteten Situation durch mehrere ausgedehnte Studienreisen. So ging er 1803 mit Burgsdorff nach Süddeutschland, von 1804 bis 1806 (teilweise mit seiner Schwester) über München nach Rom und 1808 bis 1810 nach München und Wien. Überall machte er bei Freunden Schulden oder ließ sich von Mäzenen aushalten. Außerdem pendelte Tieck häufig zwischen Ziebingen und Dresden, wobei er Ziebingen mitunter in fluchtartiger Eile verließ. In diesen „Wanderjahren“ war sein eigenes literarisches Schaffen jedoch sehr eingeschränkt, abgesehen von einigen Märchen und Erzählungen.

Bereits in Dresden hatte Tieck mit einem intensiven Studium der altdeutschen Literatur begonnen, dass ihn 1803 zu einer Ausgabe der Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter veranlasste, mit der er „an die ältere deutsche Poesie erinnern und das größere Publicum mit dieser bekannt“ machen wollte. Im Rahmen seiner Beschäftigung mit der mittelalterlichen Literatur entstanden auch die beiden Nibelungen-Romanzen Siegfrieds Jugend und Siegfried der Drachentöter (1804), die vermutlich später einen gewissen Einfluss auf Richard Wagner hatten.

Ab Herbst 1810 hielt sich Tieck wieder länger in Ziebingen auf. Neben weiteren Kurzerzählungen bearbeitete er die eigenen Frühwerke. So fasste er Märchen, Lustspiele und Erzählungen in dem fragmentarisch gebliebenen Sammelwerk Phantasus (3 Bände, 1812/16) zusammen, welches – in Anlehnung an Boccaccios Decamerone – in einen kunstvollen Erzählrahmen eingebettet ist. An den neueren Erzählungen dieser Sammlung war bereits der Wandel zu einem realistischen Novellenschaffen abzulesen.

Außerdem betrieb Tieck umfassende Studien zum deutschen und elisabethanischen (William Shakespeare) Theater, die er in Alt-Englisches Theater (1811) und Deutsches Theater (1817) veröffentlichte. Höhepunkt dieser Lebensdekade war sicher die gemeinsame Reise 1817 mit Burgsdorff nach London (mit einem Abstecher nach Stratford-on-Avon) und Paris, mit der sich Tieck einen langjährigen Wunsch erfüllte. Im Britischen Museum befasste er sich mit altenglischen Theatermanuskripten.

Nach dem Tod des Grafen Finckenstein im April 1818 zog Tieck mit seiner Frau und den beiden Töchtern nach Dresden; in Begleitung von Henriette von Finckenstein, die mit ihrem ererbten Vermögen den Lebensunterhalt der Familie unterstützte. Hier war Tieck gern gesehener Gast in adligen und großbürgerlichen Häusern; außerdem versammelte sich ein Freundeskreis – u.a. mit dem Komponisten Carl Maria von Weber (1786-1826), dem Übersetzer Graf Wolf von Baudissin (1789-1878), dem Maler Carl Gustav Carus (1789-1869) oder dem Schriftsteller Eduard von Bülow (1803-1853).

Mit der Umsiedlung nach Dresden begann eine fast zwanzigjährige äußerst produktive Periode, die sich vor allem in einem umfangreichen novellistischen Schaffen äußerte. Mit dem Zurücktreten des Märchenhaften der früheren Novellen, dem Aufgreifen von gesellschaftlichen Problemen markierten die sogenannten „Dresdner Novellen“ den Übergang von der romantischen zu einer in Ansätzen realistischen Prosa. Tieck war jetzt bemüht, aktuelle Stoffe für seine Novellen zu gewinnen. Es war der Versuch, den Gegensatz von Poetischem und Unpoetischem zu überwinden. Die Gesamtheit dieser Novellen erschien 1852-1854 als vollständige Sammlung in immerhin zwölf Bänden. Aus der Fülle seien die kunstgeschichtliche Satire Die Gemälde, die zeitkritische Erzählung Die Gesellschaft auf dem Lande (1825), die Gothic-Parodie Das Zauberschloss (1830) oder die populäre Künstlernovelle Des Lebens Überfluss (1839) erwähnt. Eine Besonderheit sind die beiden historischen Novellen Der Aufruhr in den Cevennen (1826, unvollendet) und Vittoria Accorombona (1840). Mit der Themenvielfalt und Meisterschaft gehörte Tieck neben Achim von Arnim, Heinrich von Kleist und E.T.A. Hoffmann zweifellos zu den Begründern der deutschen Novellenkunst; aber im Gegensatz zu Kleist oder Hoffmann ist sein Novellenwerk heute jedoch weniger bekannt.

Besonders einflussreich waren Tiecks Bemühungen um das Dresdner Theater, zunächst mit einer Reihe von Kritiken und Aufsätze, die er zwischen 1821-1824 in der Dresdner Abendzeitung veröffentlichen ließ. Schließlich wurde er zum Hofrat und Dramaturg am Hoftheater ernannt, wo es ihm gelang, seine eigenen Vorstellungen von einem zeitgenössischen Theater wenigstens ansatzweise umzusetzen. Er nahm nun eine zentrale Position im kulturellen Leben der Stadt ein und entfaltete eine rege öffentlichkeitswirksame Tätigkeit – u.a. mit regelmäßigen öffentlichen Vorleseabenden im „Haus am Altmarkt“. Mit seiner berühmten Vortragskunst, die leicht mehrere Stunden dauern konnte, wurde er geradezu zu einem europaweiten Anziehungspunkt. Im Mittelpunkt dieser literarischen Abende, die auch eine Art Selbstinszenierung waren, standen vor allem die dramatischen Werke von Shakespeare, Goethe, Schiller, Kleist, Calderón oder de Vega, aber auch von antiken Autoren. Darüber hinaus trat Tieck als Herausgeber der Werke von Novalis, Maler Müller, Kleist und JMR Lenz auf. Für junge aufstrebende Dichter (u.a. Immermann oder Grabbe) wurde er zum literarischen Mentor. Außerdem beteiligte er sich an der klassischen deutschen Übersetzung von Shakespeares Werken. Die eigentliche Übersetzungsarbeit erledigten dabei Wolf von Baudissin (1798-1878) und Tiecks Tochter Dorothea. Tiecks Anteil selbst war gering, er fungierte als Berater und Editor, der jeden Aspekt der Übersetzungen in Correctur detailliert erläuterte.

Dank Tieck war Dresden ein „neues Weimar“ geworden. Nach Goethes Tod galt er vielen als „erster Dichter Deutschlands“. Doch ab Mitte der 1830er Jahre wurde es ruhiger um den „König der Romantik“ (Friedrich Hebbel). Seine Frau Amalie starb 1837; seine Tochter Dorothea, die stets eine unersetzliche Hilfe für ihn war, starb 1841. Tieck selbst überlebte 1836 einen schweren Verkehrsunfall mit der Kutsche auf dem Weg zu einem Kuraufenthalt in Baden-Baden und erlitt 1842 einen ersten schweren Schlaganfall.

In diesem schwierigen Lebensabschnitt kam der Ruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) nach Potsdam und Berlin gerade richtig. Im Herbst 1842 siedelte der bejahrte Tieck mit Henriette von Finckenstein nach Berlin über, wo ihm der „Romantiker auf dem Thron“ neben einer Sommerwohnung im Park von Sanssouci und einer Stadtwohnung in der Friedrichstraße auch ein großzügiges Salär bot. Im Auftrag des Königs sollte er Musteraufführungen auf die Bühne des Potsdamer Neuen Palais bringen. Hier konnte Tieck u.a. sein Lieblingsprojekt, Shakespeares Ein Sommernachtstraum, inszenieren. Es war die deutsche Erstaufführung des romantisch-poetischen Märchenspiels. Trotzdem wurde Tieck in Berlin nicht mehr so richtig heimisch. Gräfin Finckenstein starb 1847. Für die Revolution von 1848 und die Barrikadenkämpfe in Berlin zeigte der körperlich geschwächte Greis wenig Verständnis. Ein Jahr später verkaufte der Bibliophile seine aus 16.000 Bänden bestehende Bibliothek, um seinen Bruder Friedrich zu unterstützen. Einsam und von zwei weiteren Schlaganfällen ab 1852 zur Bettlägerigkeit verurteilt, verbrachte er seine letzten Lebensjahre. Ludwig Tieck starb am 28. April 1853 und wurde auf dem Dreifaltigkeitskirchhof in Berlin-Kreuzberg beigesetzt.

Im Vergleich zu den umfangreichen Novalis- und ETA Hoffmann-Veröffentlichungen im Vorjahr sind die Neuerscheinungen zum Tieck-Jubiläum recht überschaubar. Vielleicht ein Ausdruck, dass seine Werke kaum noch lebendiger Bestandteil der heute gelesenen Literatur (auch der Schullektüre) sind? Diesem bedauerlichen Umstand will der Auswahlband Wilde Geschichten entgegenwirken, der mit elf frühen Geschichten Tiecks bekannt macht, die der Berliner Verleger Nicolai in der Sammlung Straußfedern in schneller Folge auf den Markt geworfen hatte. Hier zeigte sich Tieck als wilder und raffinierter Geschichtenerfinder; seine frühromantischen Geschichten sprühten vor Phantasie, Sinnlichkeit, Spielerei oder Kuriositäten, aber sie thematisierten auch Wahnsinn, Raserei, Furcht und Schrecken.

Mit der Erzählung Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben über einen jungen aufstrebenden Beamten lieferte Tieck eine Satire der gesellschaftlichen Verhältnisse. In der kurzen Geschichte Der Psychologe und der Parallelmontage Der Naturfreund karikierte er modische Zeiterscheinungen. Während der Psychologe zum Zeitvertreib psychologische Fälle sammelt, berichten ein schöngeistiger Dreißiger und die gutaussehende Tochter einer Geheimrätin in Briefen über ihre täglichen (identischen) Naturerlebnisse, sodass die gemeinsame Naturverbundenheit in einem Heiratsversprechen endet.

Im Mittelpunkt der Auswahl stehen das Kunstmärchen Der Blonde Eckbert, das im Mittelalter im Harz angesiedelt ist, und die Märchennovelle Der Runenberg (1804), die das Schicksal des jungen Jägers Christian erzählt. Zwischen dem einfachen Leben im Tal und der dämonischen Bergwelt hin- und hergerissen, erliegt er den Verlockungen des Runenberges und wird am Ende ein Fremder für seine Familie.

Seine Angst nahm zu, indem er sich dem Gebirge näherte, die fernen Ruinen wurden schon sichtbar und traten nach und nach kenntlicher hervor, viele Bergspitzen hoben sich abgerundet aus dem blauen Nebel. Sein Schritt wurde zaghaft, er blieb oft stehen und verwunderte sich über seine Furcht, über die Schauer, die ihm mit jedem Schritte gedrängter nahe kamen. Ich kenne dich Wahnsinn wohl, rief er aus, und dein gefährliches Locken, aber ich will dir männlich widerstehen! […] Sehe ich nicht schon Wälder wie schwarze Haare vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die blitzenden Augen nach mir her? Schreiten die großen Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu?

Die friedliche Idylle wird immer mehr von Grauen und Wahnsinn bestimmt. Mit dieser Stimmung des Unheimlichen zählt die Erzählung zu den bedeutendsten Beiträgen der deutschen Literatur zur „Schwarzen Romantik“.

Die beiden Herausgeber der Auswahl Jörg Bong und Roland Borgards haben Tiecks Texte durchgehend mit kommentierenden Zwischentexten versehen, in denen sie nicht nur literaturgeschichtliche und biographische Hintergründe erläutern, sondern auch ihre persönlichen Lektüreeindrücke verraten.

2014 wurde die Internationale Tieck-Gesellschaft e.V. (ITG) mit Sitz in Dresden gegründet. Sie setzte sich die ideelle und materielle Unterstützung von Projekten zum Ziel, die sich mit der Erforschung von Leben, Werk und Wirkung Ludwig Tiecks und dessen Familie beschäftigen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt seitdem auf der Förderung der historisch-kritischen Tieck-Ausgabe (Dresdner Ausgabe), die neben den sämtlichen Werken auch die Übersetzungen, Editionen und den Briefwechsel berücksichtigen soll. Der Editionsplan sieht 41 Bände vor, von denen aber bisher noch kein Band erschienen ist.

Die Tieck-Studien, die im Dresdner Thelem Universitätsverlag & Buchhandlung erscheinen, versammeln wissenschaftliche Beiträge zu Ludwig Tieck in Zusammenarbeit mit der Tieck-Gesellschaft und ihren Mitgliedern. Sie werden für die Internationale Tieck-Gesellschaft von Achim Hölter, Stefan Nienhaus und Walter Schmitz herausgegeben.

Der zuletzt erschienene Band 3 Ludwig Tieck. Werk – Familie – Zeitgenossenschaft vereinigt Beiträge zweier Arbeitstagungen der Internationalen Tieck-Gesellschaft (Dresden 2015 und Wien 2016) und präsentiert neue Erkenntnisse der Erforschung Ludwig Tiecks und seines Umfelds. In der „einleitenden thesenhaften Skizze“ Ludwig Tiecks Autorenschaft gibt der Herausgeber Walter Schmitz einen Überblick über Tiecks schriftstellerischer Leistung, die aber nur dank seiner Lebensführung und Werkpolitik möglich war. Elena Agazzi beleuchtet Tiecks Briefwechsel mit seinem Jugendfreund Wackenroder, der auf die Jahre 1792-1793 zurückgeht und Aufschluss gibt über die unterschiedlichen literarischen Vorlieben und Neigungen (Minnesänger – Shakespeare) der beiden Freunde. Während Michael Heilmann in Tiecks verkehrte Musik dessen Bezugnahme auf musikalischen Phänomene reflektiert, widmen sich Anne Baillot und Sophia Zeil-Bonk in ihrem Essay den Beziehungen Tiecks zu dem idealistischen Philosophen Karl Solger (1780-1819). Beide verband zwischen 1812 und Solgers Tod ein reger Gedankenaustausch.

Andere Beiträge widmen sich Tiecks Reise nach Italien (Federica La Manna), Tiecks Volksmärchen Blonder Eckbert (Lothar Blum), dem Unheimlichen in Tiecks Spätwerk (Stefan Nienhaus) oder dem Auktionskatalog von Tiecks berühmter Bibliothek (Achim Hölter, Paul Ferstl und Theresa Mallmann). Abschließend wendet sich Walter Schmitz noch einmal den verschiedenen Phasen von Tiecks umfangreichem Briefkorpus zu, der mehr als nur biographische Quelle ist. „Für Tieck waren seine Briefe die medial zeitgemäße Form jenes Lebens ‚in der Poesie‘, das die ‚Romantiker‘ anstrebten.“

Der Reclam Verlag hat das Kindermärchen in drei Akten Der gestiefelte Kater herausgebracht. Die Komödie wurde 1797 veröffentlicht und gilt als Schauspiel eines Schauspiels, als Konfrontation des Theaters mit dem Theater. Die Handlung ist ein chaotischer Theaterabend, in dem ein gefräßiger König, ein tyrannischer Popanz, eine alberne Prinzessin, die miserable Gedichte schreibt, ein Hanswurst, der derbe Späße macht, und ein schlauer Kater, der den Menschen den Spiegel vorhält, auftreten. Während der Vorstellung sitzt das mitspielende Publikum mit auf der Bühne, wo es seine Unzufriedenheit mit dem gegebenen Stück äußert und versucht, direkt in die Handlung einzugreifen, sodass die Schauspieler völlig aus dem Konzept geraten. Auch der Dichter kommt immer wieder zu Wort und bittet die Zuschauer um Milde. Dabei sind die Bühnenhandlung und die Interaktionen des Publikums und des Dichters nicht voneinander zu trennen. Den Sprung auf die Bühne schaffte das Stück jedoch erst 1844 auf Befehl Friedrich Wilhelm IV. im Potsdamer Schlosstheater. Die Premiere war aber ein Reinfall; das reale und gutbürgerliche Publikum hatte kein Verständnis für derartige Späße und verließ noch vor dem letzten Vorhang den Saal.

Der Audio Verlag steuerte zum Tieck-Jubiläum eine Hörspielfassung (Download-Version) des historischen Romans (in fünf Büchern) Vittoria Accorombona bei. Es handelt sich dabei um eine WDR-Produktion aus dem Jahre 1964 (u.a. mit Gert Westphal, Leonard Steckel, Hansjörg Felmy, Michael Degen und Erla Prollius). Tieck schilderte in seinem Alterswerk, das am Ende seiner Dresdner Jahre entstand, das abenteuerliche Schicksal der dichterisch begabten Tochter einer angesehenen römischen Advokatenfamilie, die unter dem Pseudonym Vittoria Accorombona als Dichterin der italienischen Renaissance bekannt wurde. In dem Familiendrama voller Mord und Heimtücke versucht die junge Frau, dem Heiratszwang der römischen Gesellschaft zu entkommen. Vergeblich kämpft sie um Selbstbestimmung und stürzt dadurch ihre Familie mit ins Verderben. Mit dem Roman, der eine bewegte, historisch belegte Episode am Ende des 16. Jahrhunderts aufgriff, entfernte sich Tieck am weitesten von der romantischen Position seiner frühen und mittleren Jahre. Tieck, der sich ansonsten kritisch und teilweise polemisch mit der jungdeutschen Literatur auseinandersetzte, gelang hier mit der Gestalt der selbstbewussten Titelheldin jedoch eine Annäherung an die zeitgenössische Literaturbewegung, die sich u.a. für die Emanzipation der Frau einsetzte.

Titelbild

Achim Hölter / Walter Schmitz (Hg.): Ludwig Tieck. Werk – Familie – Zeitgenossenschaft.
Tieck-Studien Band 3 (Hg. Achim Hölter, Stefan Nienhaus und Walter Schmitz).
Thelem Universitätsverlag, Dresden 2021.
274 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783959084475

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Titelbild

Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater. Kindermärchen in drei Akten. Mit Zwischenspielen, einem Prologe und Epiloge.
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 14332.
Reclam Verlag, Stuttgart 2023.
88 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-13: 9783150143322

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Titelbild

Ludwig Tieck: Wilde Geschichten.
Herausgegeben und mit Zwischentexten versehen von Jörg Bong und Roland Borgards.
Galiani Verlag, Berlin 2023.
288 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783869712772

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Ludwig Tieck: Vittoria Accorombona.
Hörspiel mit Gert Westphal, Leonard Steckel, Erla Prollius.
Der Audio Verlag, Berlin 2022.
4 h 43 min, 11,95 EUR.
ISBN-13: 9783742424051

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