Schlaflos in Belleville
In Thomas Stangls Roman „Fremde Verwandtschaften“ entdeckt ein Architekt, wie fremd er sich selbst ist
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Wiener Architekt Harald Hiesl ist ein Idealist. Seine architektonischen Entwürfe werden selten realisiert, in seiner „Idee des offenen Gebäudes“ steckt ein Potenzial für Veränderungen, für welche die Zeit noch nicht reif scheint. Das ist ehrenwert und führt deshalb immer wieder zu Einladungen zu Kongressen beispielsweise ins westafrikanische Belleville.
In Fremde Verwandtschaften nimmt Thomas Stangl Elemente und Motive seiner früheren Bücher auf. Die Begegnung mit dem fremden Afrika oder das Abgleiten in eine haltlose Leere erinnern an Der einzige Ort (2004) oder Ihre Musik (2007). Und die Titelbegriffe im Essayband Reisen und Gespenster (2012) finden atmosphärischen Widerhall in einem Gedanken, den der Architekt Hiesl äußert: „Reisen hieße nichts anderes als die Welt mit den eigenen Gespenstern, meinen privaten Gespenstern zu bevölkern.“ Die Fremdheit sitzt dem Architekten unter der Haut, aus der er nicht heraus kann. Unter all den Koryphäen, die nach Belleville eingeladen sind, fühlt er sich unwohl, obwohl er gut gelitten ist. Einzig mit der Belgierin verbinden ihn vertraute Gefühle. Doch es ist lange her, dass sie eine Affäre miteinander hatten. Was soll er, der weiße Mann aus dem alten Europa, hier bewirken, was nicht als kolonialistische Besserwisserei aussehen würde?
Thomas Stangl zeigt einen Menschen, der sich selbst fremd geworden ist. Von diesem Gefühl bringt Harald Hiesl auch die Sehnsucht nach seiner Frau und den beiden Kindern zu Hause nicht ab. Er wirkt unruhig, im Spiegelbild erkennt er nur eine Leerstelle und nachts findet er keinen Schlaf. Seine Gedanken kommen nicht zur Ruhe – genauso wenig wie die Sprache, mit der Thomas Stangl erzählt. Sie ist in einem unruhigen Drängen und Kreiseln begriffen, das Wahrnehmungen vor Ort haarklein festhält und mit Träumen und Erinnerungen an den toten Vater, den verstorbenen Bruder und die Kindheit auflädt. Im unablässigen Strom der Gedanken gibt es kein Innehalten. Der Architekt sucht fiebrig nach einer Gelegenheit, ausbrechen zu können, zumindest für eine kurze Weile, doch da er mit der Stadt nicht vertraut ist, gerät er in Hinterhalte und auf Abwege. „Alles ist zu eng. Ich will, sagt er sich, ich will doch nur. Ich will doch nur, sagt er sich immer wieder, will doch nur, dass der Raum wirklich wird.“ In diesen Strang, in den sich auch architektonische Überlegungen mischen, hat Stangl alternierend eine zweite Ebene eingeflochten, in der ein Ich-Erzähler von ganz ähnlichen Träumen und Erinnerungen umgetrieben wird.
„Toujours la discontinuité“ vernimmt der Architekt einmal wie einen Refrain: „er fühlt sich umkreist und umzingelt von Diskontinuität“, so als ob er selbst aus dem eigenen Leben herausgefallen wäre. Stangl erzeugt einen mitreißenden erzählerischen Sog, der die beiden Ebenen in ein komplexes Verhältnis zueinander setzt. Er spielt damit, dass es womöglich der Architekt selbst ist, der aus der Ich-Perspektive erzählt, doch die sich öffnenden Klüfte zwischen den beiden Strängen durchkreuzen diese Vorstellung wiederum. Oder handelt es sich hier lediglich um narrative Finten? Wenn sich der Architekt beispielsweise in der Stadt verirrt, ohne Kamera und Orientierung, derweil es den Ich-Erzähler auf ähnliche Weise in einen touristischen Hinterhalt verschlägt, den er mit seiner Kamera immerhin festhalten kann und dabei überlegt: „Soll ich nun wieder Ich sagen und damit allen meinen Figuren den Boden unter den Füßen wegreißen, dem Architekten, der ohnehin so wenig Boden unter den Füßen hat?“
Das Vexierspiel lässt keine definitiven Antworten zu. Es führt in eine erzählerische Paradoxie, die sich nicht leichthin auflösen lässt. Da hilft auch eine Aussage wie diese nicht heraus: „jeder Satz, den ich schreibe, ist falsch und gelogen, denn es gibt die zweite Ebene nicht, auf die ich immerzu flüchten möchte. Diese einzige Ebene, auf der es einen Sinn hat, ich zu sagen, weil ich weiß, dass ich nicht damit gemeint bin, dass ich mich verfehle und von mir ablenke.“ Thomas Stangl schreibt sie seinem Ich-Erzähler zu. Doch selbst wenn es sich um ein und dieselbe Person handelte, wären sie nicht identisch, weil gerade die Identität auseinanderfällt. Die widersprüchlichen Erinnerungen erzeugen einen Widerstand, der keine Wahrheit mehr zulässt – allenfalls Ähnlichkeit und Wahrscheinlichkeit, oder Wahrhaftigkeit.
Mit feinnerviger Intensität beschreibt Stangl die Reise seines Helden zu einem Kontinent, in dem er nie wirklich ankommen wird, und kann. Afrika bleibt ihm fremd, so wie es auch auf die mit ihm Reisenden zutrifft, allem voran jene, die sich besonders gut auszukennen meinen. Die diskutierten Architekturkonzepte sind kolonialistische Artefakte ohne realen Nennwert. Und die Anwesenheit auf afrikanischen Boden wird überlagert von Alpträumen, Erinnerungen und hergebrachten Vorstellungen, die den Protagonisten die „Hohlräume in seinem Inneren“ spüren lassen. Hin und wieder tut der Autor des Guten freilich auch ein wenig zu viel, wenn er seinem Protagonisten begrifflichen Ballast aufbürdet, der (immer wieder) mit Klammerbemerkungen (mehr als vielleicht nötig) beschwert wird. Dennoch bleibt es ein Verdienst dieses Romans, dass er die Selbstzweifel des Protagonisten (von dem gemachten Vorbehalt abgesehen) ungezwungen und stimmig in ein Gefüge von politischen, gesellschaftlichen, ästhetischen und moralischen Bezügen einbettet. „Ich war ein Fremder, aber bloß deshalb, weil nichts Eigenes in mir war“, heißt es einmal – aber was ist schon das Eigene?
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