Sprache als Weltentwurf

Charles Taylor argumentiert in „Das sprachbegabte Tier“ für eine Betrachtung der Sprache als schöpferische und konstruierende Kraft

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Charles Taylor, emeritierter Professor für Philosophie an der McGill University in Montreal und einer der einflussreichsten Sozialphilosophen der Gegenwart, hat schon einige bahnbrechende Studien vorgelegt. Schon früh kritisierte er die positivistische Psychologie für ihr atomistisches Weltverständnis, später kritisierte er im Rahmen seiner wirkungsmächtigen Hegel-Studie, dass Sprache für ihn nicht nur ein Ideenvehikel sei, sondern dem Menschen helfe, „sein Selbst auszudrücken“. In Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens (The Language Animal, 2016) vereint er nun beide Ansätze miteinander. Das Buch ist als Zusammenfassung seines Lebenswerkes konzipiert, als Essenz einer großen Denker-Biografie.

Wie der Titel bereits vermuten lässt, hat Taylor keine kühle Sprachtheorie verfasst, sondern koppelt seine Überlegungen zu Entstehung und Nutzen von Sprache immer an existenzielle Fragen des Menschseins. Taylor ist der Überzeugung, dass das menschliche Sprachvermögen die Existenz erträglicher macht, indem es uns ermöglicht, Geschichten zu erzählen und so Kultur zu schaffen. Mit diesem Ansatz stellt er sich gegen die Auffassung von Sprache, die die sogenannten deskriptiven Sprachtheorien nach Thomas Hobbes, John Locke und Étienne Bonnot de Condillac (auch HLC-Theorie genannt) vertreten. Ihnen zufolge bezeichnen Wörter Dinge, die wir in der Welt vorfinden. Sprache dient hier also der reinen Beschreibung und Bewältigung der objektiven Welt.

Für Wissenschafts- oder Formalsprache mag dies zutreffen. Doch Taylor widerspricht dieser Ansicht und steht für eine Konstitutionstheorie der Sprache ein. Er stellt sich in die große europäische Tradition, die den Menschen mit Aristoteles als „zoon logon echon“ versteht, also als Tier, das Vernunft beziehungsweise Sprache hat (griechisch lógos: Wort, Sprache, Vernunft). Die Theorie Johann Georg Hamanns, Johann Gottfried Herders und Wilhelm Humboldts (die sogenannte HHH-Theorie) begreift Sprache als Werkzeug, mit dem die soziale Welt erschafft und verändert werden kann. Sprache schafft eine Realität, die es ohne ihre sprachliche Form nicht geben würde und hat somit einen schöpferischen Charakter. Diesen Ansatz vertieft Taylor in seinem Buch; er möchte zeigen, „daß dieses [Sprach]Vermögen mehr Formen annehmen kann, als man vermuten möchte.“ Der primäre Ort der Sprache ist nach Taylor nicht das monologische Bezeichnen von Dingen, sondern das Gespräch.

Ein wesentlicher Aspekt seiner Argumentation ist die Frage, wie es möglich ist, neue Bedeutungen zu formulieren. Am Beispiel ethischer Einsichten und künstlerischen Verstehens leitet Taylor die Erkenntnis neuer Bedeutungen her, deren Richtigkeit im hermeneutischen Zirkel überprüft werde. Moralischer Fortschritt zum Beispiel ist immer auch ein sprachlicher Fortschritt – oder anders herum: Immer fortschrittlichere sprachliche Interpretationen der Welt schaffen immer neue Dimensionen des sozialen Zusammenlebens. Sprache ist also laut Taylor nicht atomistisch, sondern holistisch.

Das sprachbegabte Tier ist vor allem denjenigen Lesern zu empfehlen, die sich in der philosophischen Tradition und zeitgenössischen Sprachphilosophie auskennen. Diesen fällt dann auch auf, dass der vermeintliche Streit der beiden Theorielager in seiner Plakativität an den Haaren herbeigezogen ist. Das wird auch Taylor klar sein, wenngleich sein Horizont 40 Jahre Forschung auf diesem Feld umfasst und sich die Theoriebildung anfangs in der Tat auf diese beiden Traditionslinien beschränkten. Dem Aufbau dieses Buch jedenfalls tut diese Frontenbildung gut. Überhaupt ist Das sprachbegabte Tier ein trotz aller Faktendichte sehr kurzweiliges Lesevergnügen. Charles Taylor sieht das Buch als ersten Teil eines Projekts, dessen zweiter Teil sich mit der nachromantischen Poetik befassen soll.

Titelbild

Charles Taylor: Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens.
Übersetzt aus dem Englischen von Jochen Schulte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
656 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587027

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