Engel in Berlin

Michael Reicherts zeigt im Roman „Stoffwechsel“, wie man über Altenpflege leichtfüßig und spannend erzählen kann

Von Peter TrempRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Tremp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In kleinen Flitzern, wie auf Flügeln, schwärmen sie aus durch die Straßen Berlins, mal bleiben sie im Großstadtverkehr stecken, um dann mit überhöhter Geschwindigkeit die verlorene Zeit wieder gutzumachen. Die Mitarbeiterinnen von Lina Engels Pflegedienst haben Termine bei ihren Klienten betagten, pflegebedürftigen Menschen.

Wir lernen die Alten auf diesen Visiten nach und nach besser kennen; die Besuche bilden in kurzen Kapiteln einen Großteil des Romans. Wer jetzt meint, Alte mit ihren Leiden und Wehwehchen, das sei doch nicht spannend, sieht sich getäuscht. Sie haben zwar Beschwerden, letale Krankheiten, tragen einen schweren Rucksack an Lebenserfahrungen, leben ihre Tics aus, sind aus nachvollziehbaren Gründen misstrauisch, sie sind schrullig, schräg, stolz, eingebildet. Es sind einfach bemerkenswerte Persönlichkeiten, deren Entwicklung der Leser mit großer Freude mitverfolgt. Einige von ihnen sind nicht einfach, und man weiß nie, mit welcher Überraschung sie Lina bei ihrem nächsten Besuch erwarten. Sie wird von ihren Klienten herausgefordert, getestet, ihre Zuneigung wird harten Prüfungen unterzogen, einige versuchen, sie zu belügen, zu täuschen, aber schließlich wird sie entweder geschätzt, gar geliebt, oder ihre Kompetenz anerkannt.

Diese Alten haben es nicht leicht, aber man sieht sie mit Linas Augen, man mag sie, fühlt mit ihnen, interessiert sich für ihr Schicksal. Ein Mann muss vor der lebensbedrohlichen Fürsorglichkeit seiner misstrauischen Schwester geschützt werden, einer stirbt auf dem Klo, ein Gutgläubiger wird um sein Haus betrogen, eine Frau versteckt ihr Geld zuhause, eine Dame will partout keine Unterhosen tragen. Ein Wichtigtuer mit Doktortitel wirbt um Linas Gunst, der Catcher-Koloss Hotte der Würger alias der Adler von Wedding trägt sie auf Händen – es gibt viele sprechende Namen in Stoffwechsel, sie triggern die Fantasie, sind kleine Geschichten für sich.

Lina Engels ist der rote Faden, sie hält alles zusammen, ohne sie geht im Pflegedienst gar nichts. Ihr Tun ist getragen von großer Menschlichkeit, Integrität und Durchhaltewillen. Sie ist eine lebhafte, sensible Frau, die auch resolut sein kann, wenn es die Situation erfordert. Ihre unkomplizierte, gradlinige Art wird von den Klienten geschätzt, auch wenn das nicht alle zeigen können. Aber sie muss an verschiedenen Fronten kämpfen, gegen Intrigen im Innern, gegen Kompetenzgerangel, Missgunst, Neid, gegen fragwürdige Strukturen in einem undurchsichtigen Umfeld, wo Pflegebedürftige abgeschoben und in einem undurchschaubaren Sumpf einfach „verschwinden“ können. Zudem drohen mafiöse Organisationen mittels unseriöser Preiskämpfe, ihren Dienst zu übernehmen. Mit Alten kann man auch Geld verdienen, und das ruft zwielichtige Figuren auf den Plan.

Die Patienten sind auf dem Weg vom hier ins Jenseits, die einen kommen damit zurecht, andere wollen sich nur widerspenstig dem unausweichlichen Schicksal fügen, wieder andere können nicht akzeptieren, dass die Zeit des Aufbruchs ein für alle Mal verflogen ist. Sie alle stehen kurz vor dem ultimativen Stoffwechsel. Im Hier und Jetzt müssen sie jedoch versorgt werden, brauchen individuelle Pflege, Aufmerksamkeit und Zuneigung. Medikamente müssen regelmäßig und zuverlässig verabreicht und deren korrekte Einnahme gesichert werden. Eine organisatorische und menschliche Herausforderung. Die Mitarbeiterinnen von Engels Pflegedienst sind für die Klienten wichtige Bezugspersonen, der menschliche Austausch bedeutet hier mehr als simple Kommunikation. Für viele ihrer Klienten sind Lina und ihr Team der einzige Kontakt mit der Welt. Auch das ist Stoffwechsel.

Der Roman ist eine kurzweilige und erfrischende Reise in die Welt der Alten, aber er weist auch auf Strukturen der Pflege hin, die der wachsenden Überalterung der Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind. Das bereitet Lina Sorge. Sie trägt die Verantwortung über ein komplexes Tätigkeitsfeld, das an den Rändern ausfranst. Die Kontrolle über die Klienten kann verloren gehen, Vieles liegt im Argen. Pflegeketten können zerreißen, weil es an politischem Bewusstsein für Verantwortungsketten und an Rechenschaftspflicht zwischen den Akteuren fehlt. Es geht hier um die delikate und von Gesellschaft und Medien größtenteils verdrängte Frage, wie der komplexe Umgang mit den Alten (Betreuung, Medizin, Rechtliches) in der Zukunft angegangen werden könnte. Und der Roman macht einen Vorschlag, wie das gelingen könnte.

Formal hat Stoffwechsel viel von einem Film, der uns, in schnellen Schnitten montiert, häppchenweise Einblick in die Lebensumstände der Alten gewährt und dadurch einen Drive erzeugt, der die Geschichte vorantreibt und uns auf eine rasante Fahrt mitnimmt. Die Spannung nimmt in diesen nebeneinanderlaufenden, immer komplexer werdenden Lebenssträngen zu, und der raffinierte Aufbau ist mit ein Grund, warum das Buch sowohl eine leichte als auch fesselnde Lektüre ist, wie man es angesichts des ernsten Themas nicht erwarten würde. Zudem sind die kurzen Visiten reich an Unvorhersehbarem, voller Witz und sehr bildhaft in Szene gesetzt. Diese Struktur ist aber auch die angemessene Form, um dem Gehetzten der Pflegenden, die einen prallvollen Dienstplan abarbeiten müssen, und dem täglichen Stress, dem sie, aber auch Lina, die Chefin, ausgesetzt sind, Ausdruck zu verleihen.

Stoffwechsel ist eine in verschiedener Hinsicht lohnende Lektüre und sowohl formal als auch inhaltlich eine Überraschung.

Titelbild

Michael Reicherts: Stoffwechsel.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
282 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783826081613

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch