Innerlich zerrissen und souverän auftretend

Dennis Sölch und Oliver Victor geben einen Sammelband über „Albert Camus“ mit perspektivenreichen und schwungvoll geschriebenen Beiträgen heraus

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der literarisch und philosophisch hoch gebildete französische Schriftsteller Albert Camus (1913–1960) hat von sich gesagt, er sei kein Philosoph: „Was mich interessiert, ist zu wissen, wie man leben soll, […] und zwar, wenn man weder an Gott noch an die Vernunft glaubt.“ Das ist bescheiden formuliert, und ebenfalls in bescheidenem Gestus hat Camus Essays veröffentlicht, in denen er von der Sonne des Mittelmeeres und von der Erotik seines Heimatlandes Algerien schwärmt. Andererseits gibt es von Camus das Drama Die Gerechten, in dem es – knallhart, muss man sagen – um den Tyrannenmord und um das Heldentum dieser Mörder geht, und die Erzählung Der Fremde, in der das Entfalten der Persönlichkeit gepriesen wird und dieses bis zum spontanen tödlichen Revolverschuss führt. Camus Lebensphilosophie, wenn man sein Denken so nennen will, bezieht den Tod und den Mord ein. Aufschlussreich ist da seine Stellungnahme aus dem Jahre 1955: Die revolutionäre Gewalt sei in unserer Welt nicht zu vermeiden, aber sie möge sich doch trennen von „dem abscheulichen guten Gewissen“ (la hideuse bonne conscience), in dem sie sich eingerichtet habe.

In dem jetzt erschienenen Sammelband über Camus zitiert Holger Vanicek dieses Diktum und stellt von da aus die Camus’sche „Zerrissenheit“ dar. Diese sieht Vanicek auch in Camus Haltung zur Religion – nicht sie, sondern den „selbstgewissen Glauben“ kritisiere er –, in seiner Haltung hinsichtlich der Befreiung Algeriens – die Mehrheit der Algerienfranzosen waren in seinen Augen doch keine Unterdrücker – und vor allem in seinem großen Essay Der Mensch in der Revolte, in dem es bei allem Streben nach Veränderungen und Verbesserungen nicht um ein Wahr und ein Falsch gehe, sondern um eine Dynamik, um das beharrliche Weiterdenken der eigenen Position. Vanicek nennt Camus einen „Philosophen der Zerrissenheit“, der zu dieser Befindlichkeit stehe und sozusagen den Spieß umkehre: Für Camus sei grundsätzlich der Mensch, indem er nach dem Sinn des Lebens sucht, zerrissen, und seine Aufgabe sei, dieses Zerrissensein auszuhalten.

Die Zerrissenheit und die Unsicherheit und der Widerstreit spielen eine Rolle auch in anderen Beiträgen dieses Bandes. Svantje Guinebert behandelt Camus’ Begriff der Solidarität, die immer vom Einzelnen ausgeht, von seiner ureigenen Sinnsuche und seiner persönlichen Empörung, wobei er zum ‚Wir‘ erst mühsam hinfindet, es sich erschafft. Zwei Essays von Oliver Victor und Mario Wintersteiger untersuchen Camus Freude an der mittelmeerischen Kultur, die für Camus mehr orientalisch und griechisch-heidnisch als lateinisch-imperial ist (und erst recht vom deutschen Idealismus nichts wissen will) und sich dabei am Lebendigen orientiert, ja sogar dem Leben und Lebendigen ‚sein Maß gibt‘. Camus schreibe damit dem Menschen nicht irgendeine Enge vor, sondern fordere ihn auf, seinen Erfahrungsraum gründlich zu erfassen. Der „revoltierende Mensch“, dieses Camus’sche Ideal, sei letztlich ein ‚Mensch des Maßes‘.

Ein Widerstreit Camus liegt auch darin, dass er dem Existenzialismus Jean-Paul Sartres nahesteht (‚Der Mensch ist das, wozu er sich macht‘), aber dann doch Sartres Denken in Systemen ablehnt. Vincent von Wroblewski und Heiner Wittmann analysieren das Verhältnis zwischen diesen beiden Denkern. Auch an Sartre gerichtet ist Camus Aufruf: „Es genügt nicht die Krankheit zu kennen. Man muss von ihr genesen.“ Brigitte Sändig zitiert dies in ihrem profunden Beitrag über das Camus’sche Hoffen. Sändig betont auch den ‚Humanisten‘ Camus, der den „Brückenschlag“ zwischen sich und anderen, zwischen den Menschen überhaupt gesucht habe.

Unsere bisherigen Beobachtungen machen deutlich, dass Zerrissenheit und Widerstreit ein Leitthema dieses Bandes sind. Dessen Untertitel ein Philosoph wider Willen? deutet dies ja schon an. Der Humanist Camus war kein Philosoph im akademischen Sinne, er war erdverbunden und hat philosophische Fragen in essayistischer, dramatischer und romanhafter Weise behandelt. Hans Schelkshorn fasst in seinem Beitrag zusammen: Für Camus gibt es „keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Geist und Leben“; Camus sieht „Sinnlichkeit und Reflexion als Einheit“. So seien seine Kunstwerke, auch Die Pest, immer auch von seinem Denken geprägt. Bei Guinebert heißt es: Camus wolle den schöpferischen Menschen, und dieser benötige die Poesie.

Einen überraschenden Akzent setzen die Überlegungen von Anne-Kathrin Reif über die Liebe in Camus Weltbild. Es gibt nur „diese eine, einzige Liebe in der Welt“, steht bei Camus. Camus, so Reif, lehre den Menschen, „sich selbst liebend“ stark zu werden, nämlich mit Enttäuschungen und Trennungen und auch mit dem Einfluss von „politischen Rattenfängern“ fertig zu werden. Die hier sichtbare Camus’sche Apotheose der Liebe ruft Begriffe wie Vollendung und Synthese wach, scheint daher nicht recht zu der erwähnten Zerrissenheit zu passen. Freilich muss man bedenken, dass der früh verstorbene Camus das Thema Liebe noch weiter behandeln wollte, und zu erwägen ist auch: Ist der zerrissene Camus nicht zugleich der souveräne Camus, der fähig ist, sich selbst in Frage zu stellen und auf Distanz zu sich zu gehen? Ist das von ihm gepflegte „wechselseitige Zusammenspiel philosophischer und literarischer Ausdrucksformen“, wie die Herausgeber sagen, nicht ein Zeichen hoher denkerischer Abgeklärtheit?

Natürlich enthalten die Beiträge des Bandes viel mehr Feinheiten als hier genannt sind. Erhellend ist die Bemerkung von Vanicek über den Milieu-Gegensatz bei Sartre und Camus: „Während der junge Sartre seine Erfahrungen aus den Studierzimmern gezogen hatte, derweil seine Mutter im Nebenraum Klavier spielte, vertiefte sich Camus am Küchentisch in die aus der städtischen Bibliothek entliehene Lektüre.“ Weitere Aufsätze des Bandes erörtern Camus Darstellung des Mythos von Sisyphos, die öffentlichen Kontroversen beim Erscheinen von Der Mensch in der Revolte und Camus Nähe zu anderen Denkern (Gabriel Marcel, Ralph Waldo Emerson).

In diesem Band von hohem wissenschaftlichen Niveau, der auch ein Namensregister mit über 200 Einträgen enthält, sprechen Romanisten und ausgewiesene Camus-Forscher, aber auch entschiedene Fans von Camus. Das Ganze liest sich flüssig und hat Schwung.

Titelbild

Oliver Victor / Dennis Sölch (Hg.): Albert Camus – ein Philosoph wider Willen? Zur Geschichte und Gegenwart seines Denkens.
Schwabe Verlag, Basel 2022.
314 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-13: 9783757400866

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