Die Stimme spricht
Dichtungen Karl Wolfskehls aus dem italienischen Exil im Band „Eure Sprache ist auch meine“
Von Friedrich Voit
Diese neue Ausgabe von Gedichten Karl Wolfskehls aus dem europäischen Exil in der Schweiz und Italien (1933-1938) ist sehr zu begrüßen, enthält sie doch vor allem die bedeutende Gedichtfolge Die Stimme spricht, mit der sich Wolfskehl 1934 nach längerer Pause als Dichter wieder zu Wort meldete. In ihrem Aufbau bringen diese Gedichte wie nur wenige andere literarische Zeugnisse der Zeit die Erschütterung deutscher Juden über ihre fast über Nacht einsetzende Ausgrenzung und Verfolgung zum Ausdruck, nachdem Hitler zur Macht gekommen war. Für sich wie für die Gemeinschaft sprechend gestaltet Wolfskehl wortmächtig den aufgezwungenen Prozess der Um- und Neuorientierung, von der anfänglichen Bestürzung zur Selbstvergewisserung, dem Entschluss zur Annahme jüdischer Geschichtserfahrung von Aufbruch und „Weiterzug“ kulminierend in der Rückkehr zum Bund zwischen Israel und dem Ewigen.
Die Gedichte zu Die Stimme spricht entstanden zwischen Herbst 1933 und 1934, einzelne wurden in jüdischen Zeitschriften bereits vorabgedruckt. Wolfskehl war sich zunächst nicht schlüssig, wie und wo er die Gedichtfolge veröffentlichen sollte. Da sich eine Publikation in einem regulären Verlag als nicht mehr möglich erwies, bot er die Gedichte dem jüdischen Verleger Salman Schocken an, der sie in seine „Bücherei“ als 17. Band aufnahm. Es war die denkbar richtigste Entscheidung, der Band fand eine außerordentliche Resonanz unter den jüdischen Lesern; Zensur- und Verkaufsbestimmungen freilich sorgten dafür, dass die Gedichte nicht-jüdische Leser gar nicht erst erreichen konnten. Neben den beiden Auflagen in der „Schocken Bücherei“ erschien 1936 noch eine um sechs Gedichte erweiterte Ausgabe. Schocken brachte 1941 in Palästina eine hebräische Ausgabe von Die Stimme spricht heraus, übersetzt von Friedrich Bargebuhr und Gerhard Liebes, und 1947 eine englisch-deutsche Edition unter dem Titel 1933. A Poem Sequence, übersetzt von Carol North Valhope und Ernst Morwitz. Aber nicht nur durch diese Übersetzungen wurden die Gedichte über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt, auch als Begleiter mancher jüdischer Emigranten gelangten sie in viele Winkel der Erde, wo man noch heute gelegentlich in Antiquariaten auf das schmale schwarze Bändchens der „Schocken Bücherei“ stoßen kann.
Die Stimme spricht blieb auch nach dem Tod Karl Wolfskehls, der 1948 im neuseeländischen Exil starb, im deutschsprachigen Raum wenig bekannt und im Schatten der Holocaust Dichtung wie der Else Lasker-Schülers, Gertrud Kolmars, Nelly Sachs‘ oder Paul Celans, die sie gleichsam eröffnete, wie es Salman Schocken in dem Titel 1933 zur englisch-deutschen Ausgabe unterstrich. Erst die von Margot Ruben und Claus Victor Bock betreute Werkausgabe von 1960 und die diversen Editionen der Briefe Wolfskehls aus dem Exil erlaubten es, Karl Wolfskehl als eigenständigen Dichter und bedeutenden Epistolographen zu erkennen und zu würdigen.
Czapla versah die Ausgabe der Gedichte mit einem reichhaltigen Kommentar, der den Zugang zur nicht immer ganz einfachen Lektüre sehr erleichtert. Es war unbedingt richtig, dass neben die Gedichtfolge Die Stimme spricht auch die Dichtung An die Deutschen aufgenommen wurde; der Titel des Bandes zitiert eine Schlüsselzeile daraus. Beide Dichtungen entstanden fast parallel, wenngleich sie jeweils an andere Leser gerichtet sind, Die Stimme spricht an jüdische und An die Deutschen nennt die Adressaten im Titel; gemeint waren besonders solche aus dem Kreis um Stefan George, dem „Geheimen Deutschland“, denen Wolfskehl das Gedicht bereits in frühen Fassungen zugänglich machte.
Leider gibt der Herausgeber keine eingehendere Erklärung, weshalb er als Textvorlage zu Die Stimme spricht das ‚Erweiterte Werk‘ von 1936 (zurecht verzichtet er dabei auf die dort benutzte Georgesche Interpunktion) nahm und nicht die editorisch wohlbegründete Zusammenstellung der Gedichtfolge in der posthumen Werkausgabe. Bis auf wenige Ausnahmen stammen alle dort vereinten Gedichte aus der Zeit des italienischen Exils. Unrichtig aber war es sicherlich, von An die Deutschen eine erste und unvollständige Version abzudrucken, die den Gehalt und die Bedeutung der Dichtung noch gar nicht zum Ausdruck bringt. Der abgedruckte Text repräsentiert wohl die früheste und noch keineswegs ausgestaltete Fassung der sieben Strophen des ersten Teils der Dichtung, später Das Lied betitelt; noch fehlt Der Abgesang, dessen erste Fassung im November 1934 vorlag. Wenn man schon nicht den Text des Drucks von 1947 oder der späteren Werkausgabe wiedergeben möchte, sondern eine ausgestaltete Version aus der italienischen Zeit, so wäre es besser gewesen, etwa jene aus dem Oktober 1937 zu nehmen. Diese bringt bereits die die Dichtung auch strukturierenden George-Zitate, die dem Gedicht insgesamt („Die Weltzeit die wir kennen schuf der Geist“) und den beiden Teilen als leitende Motti vorangestellt sind. Der erste Teil ist dort auf den ersten Jahrestag von Georges Tod datiert und der Abgesang auf den Tag der Verkündigung der Nürnberger Rassegesetze, den 15. September 1935; diese Fassung der Dichtung hat Wolfskehl nicht mehr grundsätzlich geändert oder erweitert.
Im Vorwort und Nachwort berichtet Czapla, was ihn bewog, Wolfskehls Dichtungen aus dem italienischen Exil neu herauszugeben sowie wesentliche Fakten zu Wolfskehls Leben dieser Jahre. Auch einige Fotos sind beigegeben. Manches freilich wird kaum gestreift oder bleibt sogar unerwähnt: wie die nahe Freundschaft mit Runhilt von den Steinen, in deren Florenzer Pension sich Karl und Hanna Wolfskehl gern aufhielten, auch die Lebensgefährtin der Jahre im italienischen und neuseeländischen Exil hätte ein paar mehr Worte zu ihrer Persönlichkeit verdient. Aspekte seines Schaffens in Italien wie die Nachdichtungen mittelalterlicher hebräischer Dichtungen oder die Gedichte zum INRI-Zyklus bleiben unerwähnt. Ebenfalls einen kurzen Blick auf das neuseeländische Exil hätte man sich gewünscht. Setzte es doch mit einer neuen schöpferischen Phase ein, die in wesentliche neue Werke mündete wie die Zyklen Mittelmehr oder Die Fünf Fenster und Hiob oder Die Vier Spiegel. In den letzten zehn Jahren seines Lebens lernte er die zeitgenössische englische und amerikanische Dichtung kennen und zu würdigen, besonders in den erstaunlichen wechselseitig anregenden Freundschaften mit den viel jüngeren neuseeländischen Autoren und Dichtern wie Frank Sargeson, R. A. K. Mason und Rex Fairburn. Dies hätte dem bemerkenswerten Leben und Schaffen der Exiljahre Wolfskehls deutlichere Kontur gegeben.
Nicht recht begreiflich bleiben im Schluss des Nachworts Überlegungen zu einer latenten Nähe von Wolfskehls angeblichem Elitebewusstsein zu nationalsozialistischem ‚Denken‘. Das bedürfte sorgfältigeren Verstehens. Thomas Manns gedankenlose Tagebuch-Unterstellung einer solchen Nähe nach einer Begegnung mit Wolfskehl revidierte Mann stillschweigend selbst, als er erwog, die Dichtung An die Deutschen in seiner Zeitschrift Maß und Wert zu veröffentlichen, was jedoch besonders aus Rücksicht auf die in Deutschland verbliebene Familie Wolfskehl unterblieb. Geradezu unsinnig aber ist das Missverständnis, Wolfskehls Denken hinsichtlich des jeweiligen Verständnisses von „Staat“, führender Persönlichkeit oder „deutschem Geist“ mit Goebbels‘ Hitler-Verherrlichung in Verbindung zu bringen. Begrifflicher Wortlaut kann nicht mit der ganz anderen gedanklichen Füllung verwechselt werden. Die unüberbrückbare Differenz mag man sich vergegenwärtigen am Beispiel des weltoffenen Mottos „Dem lebendigen Geist“, das über dem Haupteingang der Universität Heidelberg steht, das vom George-Jünger und nahen Freund Wolfskehl Friedrich Gundolf stammt, und das 1933 während der Hitlerherrschaft engstirnig durch „Dem deutschen Geist“ ersetzt wurde. Der lebendige ‚deutsche Geist‘ Wolfskehls, auf den er sich in seinem großen Gedicht beruft, ist das Gegenteil des bornierten nationalsozialistischen, stellt sich diesem stolz und selbstgewiss entgegen.
Trotz der hier gemachten Bemerkungen und Einwände sind dieser neuen, schön gestalteten Edition viele Wieder- und neue Leser dieser Dichtungen zu wünschen, um darin Karl Wolfskehl als einem noch immer in seiner besonderen Bedeutung zu wenig gewürdigten Dichter und Denker seiner Zeit zu begegnen.
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