Die Leiden der jungen Netz-Nutzenden

John von Düffels Roman „Klassenbuch“ (2017) mit einem Rückblick auf „KL – Gespräch über die Unsterblichkeit“ (2015)

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist wirklich verrückt. Alle regen sich über Drohnen auf, aber jeder hat ein Handy. Alle kleben ihre Webcams mit Heftpflastern zu, sogar Mark Zuckerberg angeblich, aber jeder fotografiert und filmt mit seinem iPhone jederzeit. […] Mit den neuen Kugellinsen sieht auch das simpelste Phone mehr als das menschliche Auge und speichert das zigfache von unserem Gehirn. Noch Wochen später kann man über die Peripher-Scan-Funktion Details heranholen, von denen man schwören könnte, dass man sie nie gesehen oder gefilmt hat. [Henk über sein Handy namens „Henky“]

Diese Passage aus John von Düffels Roman Klassenbuch macht deutlich, welchen Einfluss die kleinen Helfer des Alltags, wie zum Beispiel das allgegenwärtige Smartphone, haben können. Am Exempel von neun Jugendlichen veranschaulicht von Düffel eine doppelte Suche – nach dem Ich und nach der Wahrheit der Welt. Beides ist durch die Verschränkung von Realität und Virtualität im digitalen Zeitalter problematisch.

Die Protagonisten in Klassenbuch sind Digital Natives der nach der Jahrtausendwende geborenen „Generation Z“, deren Handeln und Sprechen digital transformiert ist, sodass anthropologische Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Auge-Hand-Koordination, Kognition, Konzentration, Kommunikation und Kooperation beziehungsweise Konkurrenz im Wettkampf sich durch die elektronischen Medien verändern. Es geht aber nicht um mimetische Wiedergabe authentischer Netz-Nutzungen, wie der Roman missverstanden werden könnte. Vielmehr entwickelte von Düffel den Stoff im Laufe eines Projekts des PEN-Clubs mit SchülerInnen, in dem diese ihre Themen als Denk- und Schreibanstoß an den Autor, Philosoph und heutigen Dramaturg des Deutschen Theaters Berlin weitergaben, sodass er sie sich zu Herzen nahm. Dabei konnte er das Goetheʼsche Tasso-Motto von 1807 „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt/ Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“ in das Jahr 2017 übersetzen: „Und wenn der jugendliche Netz-Nutzer in seiner Qual verstummt/ Gab ihnen ein Romanautor in seinem Roman die Gelegenheit, zu sagen, was sie leiden.“

Neun jugendliche Ich-Erzähler haben zusammen – wenn sie nicht gerade die Schule schwänzen – Deutschunterricht bei Frau Höppner. Diese ist für sie – und das steigert sich im Verlauf des Romans – das einzige Zentrum ihres Lebens, sie fühlen sich von ihren Eltern und der Welt allein gelassen, vor allem auch innerhalb der Datenwelt, in der sie passiv oder aktiv leben und die einen Großteil ihrer Existenz ausmacht. Frau Höppner versteht die Jugendlichen zu packen, indem sie ihnen – bei Schulbeginn nach den Sommerferien – als Aufgabe einen Essay zur Fabel von der Grille und der Ameise gibt, im Zeitalter der Digitalisierung also einen durchaus klassischen Lerninhalt. Die SchülerInnen erhalten als Aufgabe ein ernstes Entscheidungsszenario mit alternativen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und gehen sämtlich bereitwillig, ja begierig nach echter Lebensrelevanz, darauf ein.Das Zentrum bildet die lebensphilosophische Frage der Fabel, die sich aus der Kontroverse zwischen Grille und Ameise ergibt. Der Roman trägt in Teil I deshalb das aus der Ameisen-Perspektive formulierte Motto aus der Fabel: „Im Sommer hast du alle Leut’/ Durch dein Singen sehr erfreut!/ Dann, weißt du was, jetzt tanze!“ Die Deutschlehrerin – so die Äußerung des ersten Jugendlichen der neun – „las uns die Fabel von der Grille vor, die den ganzen Sommer singt, im Gegensatz zur Ameise, die durcharbeitet“. Im Rahmen von Besinnungsaufsätzen reagieren die SchülerInnen auf diese Fabel: Was sind die Regeln der Arbeit, nach der die Ameise (Leistungsethiker) fleißig bis umtriebig-übertrieben-überfleißig – durch ihr Netz – vorsorgt? Was sind die Regeln der Kunst, nach der die Grille (Ästhetiker) genial singt, das heißt ein Netzwerk gestaltet? Jede und jeder Einzelne sehen sich hier herausgefordert, aus ihrer respektive seiner Perspektive die „Moral von der Geschicht“ zu entfalten. Dieses Roman-Setting ist sicherlich ein Glücksfall, weil es gelesen werden kann unter den Fragen: Wie kann die antike Fabel die Reflexion aktueller Lebensentscheidungen anstoßen? Wie kann Schule wirklich „Schule des Lebens“ sein? Indem sie die Alternativen zwischen Grille und Ameise als den Unterschied zwischen Leben im Augenblick und für die Zukunft, Vergnügen vs. Vorsorge, Freizeit vs. Arbeitszeit und Sich-Verbrennen vs. Sich-Bewahren kulturell tradierte Lebensmodelle des Künstlers und des Bürgers zur Diskussion stellt.

Jede Figur äußert sich jeweils zweimal in einem Kapitel in einem zeitlichen Nacheinander über sich selbst. Im ersten Teil des Romans kommen die Probleme auf den Tisch (Wie leben in einem System des utilitaristisch-kapitalistischen Fortschritts?), im zweiten Teil individuelle Problemlösungsansätze (Sinnsuche als Alternative zum existentiellen und ethischen Rückschritt). Dabei ist der Verdacht, es handle sich hier um eine Dokumentation über den Umgang mit dem Internet, unberechtigt. Die Ich-Äußerungen der Figuren gehen erheblich über die Erörterung zwischen einem passiven Umgang mit dem Netz und einem aktiven Netzwerken hinaus. Was für Erwachsene Reflexion ihrer Work-Life-Balance sein sollte, wird aus der Perspektive der Jugendlichen zu einer ungeschützten existentiellen In-Frage-Stellung. Hier treten zwei Hauptfiguren des Romans heraus, der selbsternannte „Nerdfighter“ Lenny mit seiner Internet-Sucht und die Netz-Aktivistin Emily mit ihrem Burn-out.Wenn Lenny, der Gamer, den traditionellen „Schicksal“-Begriff durch den modernen der „Sucht“ ersetzt, geht er den Weg vom ‚Humanen‘, das für ihn schon längst nur noch ein ‚Anthropoides‘ ist, zum ‚Systemoiden‘, mit Tendenz zum Größenwahn. Emily erhält in einer Burn-out-Klinik auch bloß eine Rechenkunst-Hilfe, ihr Leben nach dem „Pareto-Prinzip“ zu organisieren, danach reichten schon ‚20 Prozent Einsatz‘ für ‚80 Prozent Leistung‘. Mit ihrem Krankheitsbild der „digitalen Erschöpfung“ steht sie nicht allein da, sie bleibt aber allein.

Natürlich liegt dem Roman die Frage zugrunde, wie es weitergeht mit „Netz“ und „Netzwerk“ beziehungsweise den Jugendlichen und ihrer Zukunft, deshalb hat er ein doppeltes Motto in dialektischer Manier: „It gets better.“ – „It gets worse.“. Die Jugendlichen können sich das Verschwinden ihrer Lehrerin nicht erklären: Krebs-Krankheit, Schwangerschaft, Versetzung an eine andere Schule, Tod. Sie wissen deshalb nicht, wie es weitergeht ohne sie. Lenny löst für sich das Problem, indem er sie als „Künstliche Intelligenz“ definiert, die im Netz weiterlebt und den SchülerInnen aus einem digitalen Paradies Zeichen schickt. Ist nur die Lehrerin ‚ein gemeinsames geistiges Band‘ zwischen den einsamen, allein gelassenen Jugendlichen? Gibt es keine Schnittmenge, keinen Austausch für sie ohne diese Vermittlerin? Wird durch ihr plötzliches Fehlen die erschreckende soziale Isolation der jungen Menschen – sämtlich ohne ansprechbaren Eltern – besonders sichtbar?

In seinen Bamberger Poetik-Vorlesungen, die unter dem Titel Wovon ich schreibe (2009) erschienen sind, betrachtet von Düffel seine Schriftsteller-Existenz als ein Schreiben zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft. Er wählt dazu die Unterscheidung des Existentialisten Albert Camus zwischen „solitaire“ und „solidaire“. Diese existentielle Frage steht gleichsam quer zu derjenigen, ob man als Grille oder als Ameise leben möchte. In der Komposition des Romans können die beiden Teile, in denen die neun Figuren sich jeweils äußern, als Bewegung vom Solitären (pubertäre Splendid Isolation der Ich-Perspektiven) im ersten Teil zum Solidären als Solidarischem (gereiftes Eingeständnis, dass andere Perspektiven auf die Ereignisse existieren) im zweiten Teil gelesen werden. Alle Figuren durchbrechen ihre monologische Existenz und distanzieren sich von ihrem jugendlichen, einseitigen Übereifer, sei es durch Therapie wie Emily oder durch selbstständiges Dazulernen. Als einen dritten Schritt wäre zu erwarten, dass sie sich als geläuterte Einzelgänger zusammenraufen und verbünden, um gemeinsam ihre schmerzlich vermisste Gesprächspartnerin, die Lehrerin, zu suchen. Aber dieser dritte Teil des Romans fehlt, er ist eine „Leerstelle“, die den LeserInnen zum aktiven Weiter-Spinnen des Stoffes als Kunstform-Angebot geschenkt ist.

Von Düffel ist es gelungen, einen Gegenwartsroman zu schreiben, der in Zeiten der Digitalisierung jeder bedenkenlos-gedankenlosen Verherrlichung der technischen Möglichkeiten widerspricht und der der jungen Generation eine Netz-Nutzer-Ethik auf den Leib schreibt, indem er ihr und ihrer Not eine Stimme gibt und sie nicht vor den Geräten verstummen lässt.

Die Themen vom Vexierbild zwischen Sein und Schein, vom Kontrollwahn und von der Frage nach der Unsterblichkeit im Selbstkonstrukt oder der Selbstmodellierung in künstlichen Räumen hatte von Düffel – außerhalb der „Klassenraum“-Sphäre – in seinem Werk zu Karl Lagerfeld, dem letzten Roman KL – Gespräch über die Unsterblichkeit von 2015, der jetzt als Taschenbuch erschienen ist, bereits aufgegriffen. Somit kann hier von der „K.I.“-Perspektive im „KB (Klassenbuch)“ ein Rückblick auf KL angestrebt werden: der Modeschöpfer als Generator des Scheins und Stilist seiner selbst als Leib und Seele, ein Akteur auf einer selbstgeschaffenen Bühne in Selbstbespiegelung. Allerdings ist in der Person Karl Lagerfelds auch die Gleichzeitigkeit von Grillen- und Ameisen-Existenz verkörpert, der auf allen Registern der Verführung und des Glamours spielende Mode-Künstler als Mode-Arbeitstier. Diese Figur findet unser Interesse, sei es im Frisör- oder im Mode-Salon. Der Romanplot ist die Erstellung eines Interviews mit Karl Lagerfeld – fiktiv, aber doch wahr. Er offenbart durch den Mann, verborgen hinter der schwarzen Sonnenbrille, wie sehr die bunten Bilderwelten in einer vom Sichtbaren dominierten Welt doch Wesentliches verbergen. „Der Blick des Betrachters bestimmt, wer Sie sind.“ – das Selfie ersetzt das Selbstporträt und das Schwadronieren das Philosophieren. Die Erkenntnis: „Wirklichkeit ist Wirkung“ wird dennoch erschreckend medienkritisch bewusst gemacht. Der Mode-Künstler KL gewinnt aus seiner destruktiven radikalskeptischen Kritik einen konstruktiven Impuls zum immer neuen Ansetzen, mit jeder Saison. Mode ist die Inszenierung eines ständigen Neuanfangs im Jugendlichkeitswahn. Und Karl Lagerfeld als im Jahr 2018 weiterhin unverwüstlicher 80- beziehungsweise 85-jähriger (1. Quelle: KL, 2. Quelle: Taufregister) ist als Produzent von lebensphilosophischen Aphorismen präsent: „Nicht das, was ich erreicht habe, interessiert mich, sondern das, was noch vor mir liegt.“ Das verspricht uns von Düffel im Hinblick auf die Zukunft mit den Themen seiner Romane ebenfalls.

Für ihre Unterstützung danke ich herzlich Volkan Goll und Tobias Leng.

Titelbild

John von Düffel: Das Klassenbuch. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2017.
318 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832198343

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

John von Düffel: KL. Gespräch über die Unsterblichkeit.
dtv Verlag, München 2017.
160 Seiten, 10,90 EUR.
ISBN-13: 9783423146104

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