Lyriker lieben Krimis

Auch als Essayist, Reisender, Dankesredner und Laudator ist Jan Wagner eine Klasse für sich, seine „beiläufige Prosa“ so kenntnisreich wie lesenswert

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Essays, Reden und Reiseimpressionen aus fünf Jahren, von 2012 bis 2016, hat Jan Wagner unter dem Titel Der verschlossene Raum – so hieß seine Münchner Rede zur Poesie, gehalten am 28. März 2012 im Lyrik Kabinett München – zusammengetragen. Es ist nach Die Sandale des Propheten (2011) der zweite Prosaband des bisher hauptsächlich als Lyriker, Herausgeber und Übersetzer in Erscheinung getretenen, 2015 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für seine Gedichtsammlung Regentonnenvariationen (2014) ausgezeichneten Hamburgers, der heute in Berlin lebt. In 22 Texten – der längste 29, der kürzeste gerade einmal eine knappe Seite umfassend – geht Wagner darin den Geheimnissen der Dichtkunst nach, bedankt sich für die ihm in der oben genannten Zeitspanne verliehenen Preise – Paul-Scheerbart-Preis (2013), Jahresstipendium der Carl Friedrich von Siemens Stiftung München (2014), Mörike-Preis der Stadt Fellbach (2015) –, laudiert selbst, gibt Auskunft zu seiner Person und beweist sich Seite für Seite als intelligenter, stilsicherer und außerordentlich kenntnisreicher Poeta doctus.

Ob er in den Gedichten von Eduard Mörike blättert und darin nichts Absonderliches, Bizarres oder Weltfremdes findet, sondern einen Mann, der „die alltäglichste Begebenheit, den gewöhnlichsten Gegenstand“ zum Ausgangsmaterial seiner Lyrik nimmt, oder uns mit der Erkenntnis überrascht, dass es gerade unter Dichtern Usus zu sein scheint, Kriminal- und Detektivgeschichten nicht bloß zu lesen, sondern geradezu zu verschlingen – Wagner schafft es stets, seinen Leser bereits mit den ersten Sätzen so zu umgarnen, dass man sich dem Reiz seiner kleinen Texte nur schwer zu entziehen vermag.

Und sollte man tatsächlich einmal wegen all des ausgebreiteten Wissens etwas ermüden, so flicht der Autor unvermittelt eine Anekdote ein, die in die Gegenwart zurückholt. Wie beispielsweise jene über eine denkwürdige Begegnung, die Wagner auf der Feier des 92. Geburtstages seiner Großmutter Edith in Biberach mit einer von ihren nicht viel jüngeren Freundinnen hatte. Auf die Frage seiner betagten Gesprächspartnerin hin, was er beruflich tue, gab er die ehrliche Antwort, er schreibe und publiziere Gedichte. Worauf sich die Frau, nachdem sie ihn so stumm wie ernst gemustert hatte, demonstrativ der Großmutter zuwandte und ausrief: „Edith, der Bienenstich ist wunderbar!“

Diese kleine Geschichte eines der Dichtkunst im engeren Sinne verbundenen, über den Einsatz von Distichen und Hexametern, freien wie gebundenen Versen, Rondeau, Sestine oder Villanelle – Was war das gleich noch einmal? –  nachgrübelnden Autors ist nicht minder gelungen als das Backwerk, auf welches sie hinausläuft. Auch ist es beileibe nicht die einzige private Reminiszenz in einem Buch, das geschickt balanciert zwischen gelehrtem Erörtern und persönlich gefärbtem Plaudern, Erdenschwere und Luftigkeit, hohem Ton und leicht hingeworfenen, nichtsdestotrotz aber gründlich durchdachten und mit Sorgfalt und viel Gefühl für Zwischentöne formulierten Nachrichten aus Wagners Dichter- und Lebenswerkstatt.

Dass man ganz nebenbei und auf durchaus unaufdringliche Art und Weise in den 22 Texten auch dem Mitmenschen Wagner begegnet, mit ihm auf Reisen geht und staunt, en passant eine kleine Liebeserklärung an seine „Muse“ vernimmt und andachtsvoll mitlauscht, wenn er Saarbrücker Abiturientinnen und Abiturienten feinfühlig auf das nach dem Abitur vor ihnen Liegende vorbereitet, macht das Buch fast zu so etwas wie einem kleinen Hausschatz für alle Gelegenheiten des Lebens. Dann aber ergreift wieder der Dichter das Wort. Und wer Jan Wagner kennt, seine Gedichtbände von Probebohrung im Himmel (2001) bis Selbstporträt mit Bienenschwarm (2016) vielleicht sogar im Regal stehen hat, weiß es natürlich längst: Auch er ist, wie die meisten derjenigen, denen er in seinen Reden und Essays Reverenz erweist, einer, der sein Material im Alltäglichen findet, im Kleinen das Große entdeckt und – ganz im Sinne des von ihm nach Plutarch zitierten Simonides von Keos – „Dichtung als sprechende Malerei“ betreibt.

„Gedicht wie Bibliothek lassen sich als zwei Varianten menschlicher Überlieferungskunst begreifen, auch wenn das Gedicht Zeilen statt Regale errichtet und nicht in Säle und Magazine, sondern in Strophen unterteilt ist“, hat Wagner in seiner 2013er Rede zum Neujahrsempfang der „Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin“ formuliert und bei dieser Gelegenheit der vielen Kollegen gedacht – von Jorge Luis Borges bis Philip Larkin –, die als Bibliothekare „poet und librarian in Personalunion“ waren. Auch wenn er selbst wohl mehr Zeit in Natur und Welt verbringt als zwischen den Regalen in wenn auch prachtvollen, so letzten Endes doch geschlossenen Räumen: Mit seinen hellsichtigen Bemerkungen zu Texten von Bertolt Brecht, Gottfried August Bürger und Johannes Bobrowski, Peter Huchel, Seamus Heaney und Ted Hughes, Patrick Kavanagh und Wulf Kirsten, Hsu Chao, Samuel Coleridge und einer ganzen Reihe weiterer klassischer oder zeitgenössischer Dichter macht er uns Lesern doch Lust, sich wieder einmal auf die Suche nach jenen verschlossenen Räumen zu begeben, als die ihm Gedichte erscheinen.

Räume, vom Dichter „ganz gezielt und Schritt um Schritt erschaffen, immer auf den maximalen Effekt beim Leser bedacht, noch die kleinsten Wirkungen berechnend – nur um am Schluss den Schlüssel von innen stecken zu lassen und sich in Luft aufzulösen“. Eben genauso wie in den besten jener Romane, die – nach Jan Wagners Beobachtung – gerade von den Dichtern so außerordentlich gern gelesen werden: den Detektivgeschichten und Thrillern, die alle um das Geheimnis eines „locked room“ kreisen. Just dorthin, in einige dieser nur mit Mühe zugänglichen Räume, weist uns Jan Wagners Textsammlung den Weg. Und weil Gedichte letzten Endes eben doch keine Kriminalromane sind, nehmen wir es dem Autor auch nicht weiter übel, wenn er uns für den einen oder anderen Text den Schlüssel in die Hand gibt.

Titelbild

Jan Wagner: Der verschlossene Raum. Beiläufige Prosa.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
269 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446254756

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