Ein Leben aus lauter Kleinigkeiten

Mit dem Band „Kleine Dichtungen“ ist die erste Abteilung der Kritischen Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte von Robert Walser komplett – ein ehrgeiziges und eindrucksvolles philologisches Unternehmen in Himmelblau.

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die Edition 2008 als Koproduktion der Verlage Stroemfeld und Schwabe mit der Ausgabe des Romans Geschwister Tanner startete, hofften die Herausgeber*innen Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz das Monument für den Schriftsteller und Dichter Robert Walser im Jahre 2022 abschließen zu können. Doch gehen jetzt noch einige Jahre ins Land, bis alle projektierten 48 Bände vorliegen werden. Vollständig ediert ist jedoch die erste Abteilung mit den Buchpublikationen, die zu Walsers Lebzeiten erschienen sind, zusammen mit drei Bänden aus der ebenfalls kompletten vierten Abteilung mit Werkmanuskripten, also den Handschriften in Faksimile und den dazugehörigen Transkriptionen zu Geschwister Tanner, Der Gehülfe und Seeland. Alles bisher Erschienene füllt mittlerweile gut einen Regalmeter, eine in Himmelblau gebundene Buchreihe, die zart leuchtet wie ein Stück blasser Himmel. Ich glaube, Robert Walser wäre entzückt gewesen von dieser scheinbaren Schwerelosigkeit dieser Reihe, die dann doch wieder ganz schwergewichtig im Regal versammelt ist und gemächlich weiterwächst.

Die Tatsache, dass es dieses Leuchten in meiner Bibliothek gibt, outet mich als Walser-Fan, der ich vor vielen Jahrzehnten mit der ersten Lektüre sofort und rettungslos wurde. Ich glaube es waren die Geschwister Tanner, die mich damals in ihren Bann zogen – dieser Roman als ein Stück keuschester Erotik, wenn dieses Wort für all die Sehnsüchte der Müßiggänger, der Glücks- und Liebessucher nicht ein wenig zu heftig ist. Aber so etwas dieser Art schwingt da wohl in den Beziehungen der Menschen immer mit.

Doch nun zu den Kleinen Dichtungen, dem Band 7 der Gesamtausgabe, der 88 kleinere Texte von meist nur anderthalb Druckseiten enthält, die zum größten Teil in Zeitungen und Zeitschriften publiziert wurden, bevor sie 1915 in Buchform im Kurt Wolff Verlag in Leipzig erschienen sind. Der editorische Bericht verrät uns am Schluss, dass Walsers Buch vom „Frauenbund zur Ehrung rheinländischer Dichter“ mit einem Preis ausgezeichnet wurde und es deshalb einen exklusiven Druck für Mitglieder gab, der, wie auch die reguläre Buchhandelsausgabe, von Karl Walser, Roberts Bruder, buchkünstlerisch gestaltet wurde. Aber nur die Mitglieder-Ausgabe trug auf dem Buchdeckel eine kleine Zeichnung: Auf einer Bank sitzt entspannt und zurückgelehnt ein Mann, die Arme über Kopf im Nacken verschränkt und mit übereinander geschlagenen Beinen. Ein Müßiggänger wie er bei Walser buchstäblich im Buche steht. Denn das sind ihm die Liebsten, die Träumer, die Unbedarften, die Spaziergänger, all jene, die eins sind mit der Welt um sich herum. Wobei es nicht immer ganz klar ist, ob die Welt auch eins ist mit ihnen. Zweifel sind berechtigt und doch fließt darin das Leben ruhig, unaufgeregt wie ein klarer Bach. Bei Walser sollte man immer ganz genau lesen, um nicht beschaulich mit betulich zu verwechseln oder kindlich mit kindisch oder naiv mit beschränkt. So manieriert dieser unverwechselbare Walser-Sound auch erscheinen mag, so wenig Aufgesetztes finden wir darin.

„Ganz in ein Schauen, in ein Sein und in ein Fühlen versunken“, lesen wir in einer der Prosadichtungen. Damit ist eine Walsersche Grundhaltung zur Welt umschrieben. In dem letzten Text der Sammlung, überschrieben mit „An den Bruder“, heißt es aber auch: „Fast mache ich mir einen Vorwurf, daß ich solch ein Schlenderer, Herumfeger und Spaziergänger bin […].“ Aber eben auch nur fast, denn warum sollte er etwas anderes sein als das, wozu er Talent besitzt und was in fast jedem seiner Texte bekenntnishaft im wahrsten Sinne eingeschrieben ist. So beispielsweise in einem mit „Der Dichter“ betitelten Text: „Ich tat niemand weh, und auch mir tat niemand weh. Ich war so hübsch, so schön beiseit.“

Zum Märchenton gibt es eine hörbare verwandtschaftliche Beziehung, aber anders als etwa ein Jahrhundert zuvor bei Johann Peter Hebel, der einem so manches Mal mit seinen Geschichten aus dem „Rheinländischen Hausfreund“ einfallen könnte, mischt sich bei Walser dann doch die Moderne als etwas Unangepasstes, Problematisches in den Figuren ein, die gerade durch ihre Wirklichkeitsvergessenheit an eben die widersprüchliche und widerständige, aber als solche unausgesprochene Realität erinnern. Walser war vor allem kein Humorist (Hebel freilich genauso wenig). Am Ende stand dafür der Autor selbst mit seinem ganz und gar nicht idyllischen Leben ein. Aber das wäre eine andere Geschichte.

Walser ist ein Philosoph des kleinen und kleinsten Formats. Eine Mittagspause genügt, dass einer liegend auf der sommerlichen Wiese die Weisheit des Lebens erkennt, nämlich dass einem nie das eine ohne das andere vergönnt sei, nie das Glück ohne die Betrübnis, alles spiele sich halb in der Sonne und halb im Schatten ab. Beständig im Leben ist also das Sowohl-als-auch:

O die reizende träumerische Schwermut, das wonnige Verzagen, die himmlisch-schöne Mutlosigkeit, die gesellige Trauer, die süße Härte.

Und so gibt es bei Walser keine überraschenden Wendungen, keine Pointen im eigentlichen Sinne, weil ihm alles gleichwertig erscheint und gleichmäßig. Die Lebenserzählungen gehen einfach voran und vorbei und hinüber und das in ständiger Wiederholung. Zur Bescheidenheit seiner Figuren gesellt sich allerdings zuverlässig die Unbescheidenheit in ihrem Genießen, denn davon kann es nicht genug geben, und es muss immer gleich die ganze Welt sein.

Das Glück des Daseins hat bei ihm eine oft wiederkehrende Kulisse: „Die Sonne schien so freundlich. Die Bäume waren grün, der Himmel war blau.“ Oder: „Die Welt sah so leicht aus, so bläulich, so sorgenlos.“ An anderer Stelle: „Mild wie ein kleines, artiges Kind sah die Welt aus, so still und hell, so freundlich-grün.“ Und ein andermal ist die Welt „aus lauter Hellgrün und Hellblau und Hellgelb“. Vor allem ist die Landschaft und der Wald zumal stets in Stille getaucht. „Alles so still“ ist eine der häufigsten Wendungen und das Adjektiv still der absolute Favorit. Überhaupt fällt Walsers übermäßiger Gebrauch von Adjektiven auf, den heute wahrscheinlich kein Lektorat mehr durchgehen ließe, aber heute würde wohl auch niemand mehr ein Hochzeitspaar in die verschiedenen Ecken der Welt schicken auf der Suche nach dem idealen Ort, den es schließlich auf einer (natürlich!) „lieblichen“ Insel findet: „Sie blieben auf der Insel wohnen. Die Insel glich an landschaftlicher Schönheit einem holden süßen Mädchenlächeln. Dort logierten sie und waren glücklich.“

Zu loben ist eine vorzügliche Edition mit einer auf Buch-Haltbarkeit bedachten Fadenheftung samt akribischer philologischer Begleitung, für die im Fall der Kleinen Dichtungen Caroline Socha-Wartmann und Matthias Sprünglin verantwortlich zeichnen. Als die kritische Ausgabe 2008 startete sinnierte Roman Bucheli in der „Neuen Zürcher Zeitung“ allerdings über den Nutzen von Manuskripten (was die Philologie mit Sicherheit gar nicht gerne hört). Denn was würden sie, abgesehen vom Zauber der Handschrift und der kalligraphischen Schönheit, uns über Walsers Arbeit und die Werk-Entstehung verraten? Gewiss wenig, so Buchelis Einspruch. Er sah die „Materialseligkeit“ als Erbe des 19. Jahrhunderts am Werk, als erschlösse sich das Ganze eines Lebens oder eines Werkes, wenn man nur aller einschlägigen Dokumente habhaft werden würde. Darüber ließe sich diskutieren, aber verdienstvoll bleibt das Projekt allemal. Denn Buchelis Gedanke ist dann doch zu kurz gedacht, denn mit einer solchen Edition wird das Archivwissen sozusagen demokratisiert und die Zugänglichkeit enorm erleichtert. Und was das Lesen betrifft: Wir Leser*innen gewinnen immer, solange man uns nichts vorenthält. Also dann lieber den ganzen Robert Walser.

Titelbild

Robert Walser: Kleine Dichtungen Band I 7.
Schwabe Verlag, Basel 2023.
332 Seiten , 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783796541674

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