Nicht nur ein Strandbad
Die Zeitschrift für Ideengeschichte wandert in ihrem diesjährigen Sommerheft am Wannsee entlang und findet an dessen Ufer lauter (Welt-)Geschichte und Geschichten
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWo anfangen bei einem See, an dem es immer rundherum geht? Aber irgendwann finden wir schließlich eine Stelle, an der wir unsere Zelte aufschlagen, zu siedeln beginnen und Häuser bauen. Damit beginnt die Geschichte eines Sees, die erkennbar eine von Menschen gemachte ist. Dort beginnt auch die beeindruckende Historie des Wannsees vor gut zweihundert Jahren, die das diesjährige Sommerheft der Zeitschrift für Ideengeschichte anschaulich illustriert; vollgepackt mit Erzählungen, was Menschen an diesem märkischen, im Südwesten Berlins gelegenen See unternommen, geplant und entschieden haben und ihm dadurch eine herausgehobene Prominenz verliehen. Weil sich aber an dem See die Menschen immer in den Vordergrund schoben, ihn sozusagen nur Kulisse sein ließen für ihr Tun, fehlt im Heft prompt die ursprüngliche Geschichte des Wannsees selbst, seine Herkunft.
Im Umkreis von Berlin mangelt es nicht an Seen. Unzählige kleinere und größere überziehen die Landschaften bis hoch an die Ostsee und werden Seenplatte genannt, weil so viele von ihnen auf einem Haufen zu finden sind. Dass dem so ist, dafür hatte die letzte Eiszeit vor rund 12.000 Jahren gesorgt mit den gewaltigen Gletschern, die von Skandinavien bis in den Berliner Raum vorgedrungen waren. Sie haben dem unter ihnen liegenden Land nicht nur unzählige Wasserläufe und noch mehr Seen als Erbe hinterlassen, als sie nach und nach wegschmolzen, sondern daraus auch einen riesigen Sandkasten mit Massen von Feldsteinen gemacht, die als Baumaterial für Häuser, Ställe und Straßen Verwendung fanden und in Brandenburg in Kombination mit dem roten Backstein zu einem spezifischen Baustil führten.
Theodor Fontanes Definition … lautet treffend: Es sei ein Land aus „Sand und Sumpf und Wasser und Wald“. Sümpfe, die hier vorzugsweise Fenn heißen, und die heute mangels Regen nach und nach immer weniger werden. Außer literarischen Berühmtheiten wie etwa dem Stechlinsee gibt es wohl keinen zweiten See, der eine solche Berühmtheit erlangte, wie gerade der Wannsee – durch jene, die sein Ufer bevölkerten.
Zunächst Heinrich von Kleist, der zwar nicht am Wannsee wohnte, aber dort logierte, um mit seiner Begleitung Henriette Vogel am 21. November 1811 für immer aus dem Leben zu scheiden. Diese Geschichte wurde schon oft erzählt und minutiös rekonstruiert, denn die Kleistforschung hat es sich nicht nehmen lassen, die letzten Stunden im Leben ihres Heros fast im Minutentakt nachzuzeichnen. Besondere Aufmerksamkeit genoss natürlich auch der Gasthof „Stimmings Krug“, in dem die beiden Lebensmüden ihre letzte Nacht verbrachten. In dem Beitrag von Anke Klare steht genau dieses Bauwerk und seine Baugeschichte im Mittelpunkt, um uns jedoch am Ende die Illusion zu nehmen, wir wüssten auch, wie die beiden Gäste wohnten:
Wie die Gästezimmer im neuen „Krug“ im November 1811 genau ausgerichtet waren, ist nach wie vor ein Rätsel. Zusammen mit einer kürzlich entdeckten Skizze von der Außenansicht des Gasthofes aus späterer Zeit kann die Bauzeichnung als Annäherung dienen, um einen Eindruck vom Ort und von der letzten Nacht von Kleist und Henriette Vogel am Kleinen Wannsee zu gewinnen.
Immerhin – eine Annäherung. Eine andere Annäherung betrifft die sterblichen Überreste des Dichters und seiner Gefährtin in Verbindung mit einem Spaziergang der Gruppe 47 zum Grab des Dichters, die 1962 im Gebäude des heutigen Literarischen Colloquiums, also nur einen Steinwurf entfernt, ihre Tagung abhielt und der die Publicity-Show durch ein weltgeschichtliches Ereignis gestohlen wurde – die Kubakrise und die Gefahr eines Atomkriegs. Dabei hätte, wie Jan Bürger in seinem Beitrag beschreibt, die Gruppe 47 nicht weniger eine politische Entspannung nötig gehabt. In der großen Politik hat sie durch das Einlenken Chruschtschows glücklicherweise funktioniert. Literaten sind da eitler und heikler, obschon noch einige Jahre bis zur Auflösung der Gruppe vergingen, aber die Krise schien danach irgendwie ein Dauergast geblieben zu sein.
Die politische Geschichte, die sich mit dem Namen Wannsee verbindet, hat vor allem einen Namen: Wannsee-Konferenz, 20. Januar 1942. Zwanzig Jahre später sah die politische Weltkarte völlig verändert aus und der Wannsee wurde zu einem Symbolort (unter vielen anderen), nämlich für die deutsche Teilung und den Kalten Krieg. Bleiben wir jedoch einen Moment im Jahr 1942 und bei dem unbedingt lesenswerten Gespräch mit der Leiterin der Gedenkstätte, Deborah Hartmann.
Lesenswert deshalb, wie ich meine, weil es mit ein paar gängigen Klischees aufräumt. Im Protokoll der Konferenz heißt es zwar „Geheime Reichssache“, aber damit sei kein Übergang von etwas „Offenem“ zum „Geheimen“ markiert. Einen solchen Umschlagpunkt gebe es nicht, erklärt Hartmann, denn Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung waren zu diesem Zeitpunkt zu offensichtlich. Das Treffen am Wannsee stand „eher für die konsequente Fortentwicklung eines sprachlich längst etablierten Vernichtungsantisemitismus“. Durch das Protokoll wurde „Öffentlichkeit“ konstruiert. Eine Welt ohne Juden, wie sie sich die Nazis vorstellten, „erforderte eine gewisse arbeitsteilige Systematik, mit der die Besatzer in Osteuropa Vertreibungen und Deportationen, Konzentrationen und Ghettoisierung, Massenerschießungen und Aushungern ‚effektiv‘ organisieren konnten“. Kurzum, es ging um die bürokratische Perfektion eines Verbrechens, das nicht erst begonnen werden musste.
Vom Haus der Wannseekonferenz aus haben Besucher einen wunderbaren Panoramablick über den See. Wie passt das mit dem historischen Ereignis zusammen? „Der liebliche Ort verstellt den Blick in den Abgrund gerade nicht“, meint Hartmann, „sondern er legt ihn in voller Grausamkeit offen.“ Nach 1945 wurde das Gebäude lange als Schullandheim genutzt – deutlicher konnte Verdrängung und Geschichtsvergessenheit nicht sein. Der jüdische Historiker Joseph Wulf scheiterte damals mit der Initiative, ein Dokumentationszentrum zum Holocaust zu etablieren. Die Nachkriegsgesellschaft wollte keine Auseinandersetzung mit den Tätern. Wulf nahm sich 1974 das Leben.
Unter den zahlreichen weiteren Beiträgen kommen diese Widersprüchlichkeiten in immer neuen Varianten zum Vorschein, etwa wenn sich Frank Bösch in „Auch Kalter Krieg in Arkadien“ auf die Kulturlandschaft zwischen Potsdam, Glienicke und Wannsee näher einlässt, mit all den baulichen Schöpfungen und parkähnlichen Landschaftsgestaltungen der Preußenkönige seit dem 18. Jahrhundert, die im späten 20. Jahrhundert zu einer politischen Sperrzone wurde mit der Glienicker Brücke als einem weiteren Symbolort der deutschen Teilung.
Hedwig Richter widmet sich in ihrem Beitrag, das preußische Arkadien ergänzend, der Sacrower Kirche – auch sie ein Zeichen von zeitgeschichtlichem Rang. Direkt am Ufer der Havel gelegen, scheint sie mit ihren filigranen Säulengängen regelrecht über dem Wasser zu schweben und tat dies noch wirkungsvoller, weil bizarrer, als sie von den streng bewachten Grenzanlagen der DDR umgeben war. Hinzu kommen die Pfaueninsel mit ihrer frühen Tiermenagerie, die später in den Zoologischen Garten Berlins umzog; sodann Max Liebermanns Villa am Wannsee, die der Künstler ab 1910 als Sommerhaus bewohnte. Erinnert wird von Monica Black an die ehemalige Villa Arnhold und seinen jüdischen Besitzer. Danach zog dort eine der Nazigrößen ein, der Reichswirtschaftsminister Walther Funk, während gegenüber auf Schwanenwerder Joseph Goebbels sicher vor den Bomben residierte, die bereits auf Berlin niedergingen. Heute beherbergt die Villa die American Academy.
Schließlich erinnert Michael Krüger daran, dass der Wannsee auch durch sein Strandbad Berühmtheit erlangte, das in den Fünfzigern von Cornelia Froboess mit dem Schlager „Pack die Badehose ein“ besungen wurde. Für ihn verbinden sich damit Jugenderinnerungen:
Alles Schreckliche, Chaotische, Zwanghafte, was unser Leben bestimmte, von der Schule bis zur Politik, von den sozialen Unterschieden bis zu den Kleiderordnungen, schnurrte hier zusammen zu einer einzigen bewegten sozialen Plastik, in der Eis am Stiel geschleckt und Brause getrunken wurde.
Claudius Seidl macht in seinem wunderbaren Beitrag „Wir vom Sommer 1929“ darauf aufmerksam, dass der Wannsee auch Filmkulisse war – und zwar filmästhetisch auf spektakuläre Weise. Die Rede ist von dem Stummfilm „Menschen am Sonntag“, an dem Billy Wilder maßgeblich mitwirkte. „Ein Kino der frischen Luft, der echten Menschen, der realistischen Schauplätze. Ein junges, ein jugendliches Kino“, beschreibt Seidl das cineastische Novum, entstanden 1929.
Regisseure hatte der Film zwei: Robert Siodmak und Edgar C. Ulmer, die beide, wie auch Wilder selbst, in Hollywood Karriere machten. Das gilt auch für den Kameramann Fred Zinnemann, der zum Spezialisten für Großproduktionen wie „High Noon“ und „From Here to Eternity“ aufstieg. Herbert Ihering, einer der berühmten Theaterkritiker der Weimarer Zeit, schrieb 1930 eine Premierenkritik und sprach von der zauberhaften Leichtigkeit und der Musikalität, die alle Tonfilme übertreffe, und schließlich vom Humor, den Einfällen und der Spielfreude.
Das Sommerheft „Wannsee“ dürfte für all jene, die einen Sinn für die oft sonderbaren Überlagerungen von Privatem und Politischem besitzen, eine wahre Fundgrube bedeuten. Das Heft betreibt eine Art Archäologie, die nicht dem Boden verschüttete Geheimnisse entreißt, sondern eine Archäologie, die auf eine andere Art gräbt und dabei gewissermaßen Bewusstseinsschichten unter lauter sich kreuzenden Lebensschicksalen freilegt. Die Umgebung des Wannsees ist ein reicher Fundort.
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