Was hätte daraus werden können
30 Jahre danach schreibt Frederic Wianka in „Die Wende im Leben des jungen W.“ den Werther über den Mauerfall fort
Von Anette Wörner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Wenderoman, Berlinroman, Künstlerroman bezeichnet der Verlag das Romandebüt des Berliner Autors Frederic Wianka. Hinzufügen ließe sich Stationenroman oder Briefroman. Tatsächlich beginnt das Buch als Brief des namenlosen Protagonisten (W.?) an seinen Jugendfreund Ingo, in dem er diesem von einem bevorstehenden Prozess in München berichtet, zu dem er geladen ist; geladen wegen einer Unterhaltsklage gegen ihn für sein Kind aus einer zurückliegenden Beziehung. Das jedoch erfährt der Leser erst sehr viel später. W. steigt in den Zug nach München, der Zug fährt ab, und es beginnt eine große Rückblende auf seine Jugend, sein Heranwachsen, sein Leben in der DDR, Schule und Ausbildung im Schwerin der 70er und 80er Jahre, eine Reise nach Ungarn im Sommer 1989, in dem der Eiserne Vorhang rissig wird, die spätere Übersiedlung nach Berlin und den Aufstieg und Fall als Künstler, den er im Kreuzberg der Nachwendejahre durchlebt.
Wianka lässt seinen Protagonisten an der Hand der Mutter zum wöchentlichen Rapport bei der Stasi antreten, die die Mutter nach dem Kontakt zum Vater befragt, der vor der Geburt des Kindes in den Westen abgehauen ist. Nach jahrelangem vergeblichem Verhör lässt die Stasi scheinbar von der Mutter ab. Bald darauf lernt sie einen Mann kennen, Restaurator und Kunstexperte, über den der kindliche Protagonist zur Kunst findet, und der schließlich sein Stiefvater wird. Doch das Unglück nimmt seinen Lauf, da der Stiefvater, als Spitzel auf die Mutter angesetzt, an seiner Aufgabe zerbricht, die Mutter resigniert und das Kind – „Nicht verstoßen von ihm, gar nicht angenommen. Bloß das. Sein Erwehren in der fremden Rolle, mit mir als penetrantestem Detail“ – in seinem künstlerischen Bemühen auf sich verwiesen bleibt.
Schule und spätere Ausbildung zum Anlagenmonteur „MAM“ werden dem Protagonisten zur lustlos absolvierten Pflicht, zunehmend werden ihm das Land und die Menschen um ihn herum fremd: „Ich bin im Nichts. Ich bin allein. Niemand der mich hat … Verloren. Ich bin diesem Land verloren gegangen durch Langeweile.“ Nur mit Ingo besteht eine Freundschaft. Mit ihm macht er sich im Sommer 89 auf den Weg nach Ungarn. Doch auch an Ingo beginnt W. zu zweifeln, zumal dessen Vater als Leiter der Berufsschule offenbar Mitglied der Staatssicherheit ist.
Angekommen am ungarischen Balaton, öffnet sich buchstäblich der Horizont für W. Er erlebt die Weite der Landschaft, verspürt erstmals die Idee von Freiheit, sieht die Farben und Töne des Wassers unter der Sonne. Die überwältigenden Sinneseindrücke – „Es war zu viel, die Welt sehend nicht auszuhalten“ – bringen ihn zur Malerei zurück. Als die beiden Freunde auf einem Zeltplatz den Aufbruch der Menschen zum pannonischen Frühstück erleben, packt W. auf der Stelle seine Sachen. Ingo aber hält ihn zurück.
So wird es Herbst 1989, bis W. von Schwerin aus in die Hauptstadt fährt und seinen Gang durch das nächtliche Berlin in der „Nacht nach der Nacht, der historischen Nacht, dieser Jahrhundertnacht“ antritt:
Das Licht gusseiserner Armleuchter grüßte jenseits dieser Zeiten von der Brücke herüber. Einem Jenseits grüßte der Dom, aus seiner Zeit gefallen und aus allen späteren, massiv und schwer, der Klotz im Lustgarten der Macht: Von Gottes Gnaden Anfang bis zur höchsten Form der menschlichen Entwicklung, ein Tausendjähriges Zwischenspiel mit einem Führer, von dem nichts zu sehen war, nur die Folgen. Ewigkeit als Anspruch war in jeden Stein gehauen. Ich schaute zum Dom, auf den Anfang dieses Jahrhunderts zurück. Paris seinerzeit hatte längst einen Eiffelturm. Mir wurde klar, was sonst als das, was hinter mir lag, was dunkel in meinem Rücken stand und runtergedimmt neben mir, hätte daraus werden können.
Ein Blick auf Schinkels Fassaden, auf das „alte Tor, das so lange keines war“, eine letzte Ausweiskontrolle am Bahnhof Friedrichstraße, wo er den Zug nach Westberlin und in ein neues Leben nimmt.
Noch in der U-Bahn, die ihn eigentlich in das Aufnahmelager Marienfelde bringen soll, macht er die Bekanntschaft mit Peter. Nach einer kurzen, erfolglosen Episode auf dem Bau entschließen sie sich, Künstler und Galerist zu werden. In der einzigartigen Atmosphäre im Berlin der Nachwendejahre gelingt die Gründung der Galerie; die Rolle des Künstlers jedoch, in die W. sich genötigt fühlt, führt schnell zu Zweifeln und Zerwürfnissen. Nach ersten Erfolgen, guten Verkäufen, Auseinandersetzungen mit Peter, nunmehr seinem Galeristen, und einer zweiten erfolgreichen Ausstellung, vollzieht sich der wirtschaftliche und persönliche Abstieg: Die Verkäufe gehen zurück, W., der sich den Zwängen der Vermarktung zunehmend entzieht und vereinsamt, verliert sein Atelier (es brennt nieder, nachdem er es einem mittellosen Künstlerkollegen überlassen hatte). Eine unerfüllte Liebe besiegelt seinen Niedergang.
Am Schluss sieht sich W. erneut vor eine Instanz zitiert, nunmehr das Münchner Gericht, das den Unterhalt für sein Kind einfordert. Den Hinweis auf seine künstlerische Arbeit quittiert der Richter mit den Worten, weshalb er nicht arbeite „wie jeder ordentliche Vater“. W. verlässt München, reflektiert über sein Leben, das er erkennt als „das was es ist: von Beginn an eine Lüge. Und ein Selbstbetrug in vielem was ich tat.“
So etwa lässt sich der Inhalt des Romans skizzieren. Erfasst ist damit aber nur ein Bruchteil der Geschichte. Die eigentliche Herausforderung für den Leser, aber auch die eigentliche Qualität des Buches besteht nicht nur in der Frage, was erzählt wird, sondern gleichberechtigt, wie dies geschieht: Montage- und Mosaiktechniken, gelegentlich abenteuerliche Zeitsprünge vor und zurück, Assoziationsketten, oft unvermittelte Erzähl-Schnitte, fließende Grenzen zwischen Erzählung, Dialog und Kommentar, zwischen Erzähler und erzählter Figur, zwischen Fakten und Mutmaßungen; Anspielungen, Verweise, Reflexionen – eine solche Fülle an Stilmitteln macht es dem Leser nicht gerade leicht, sich zurechtzufinden, belohnt aber die Aufmerksamkeit, wenn sich das Puzzle nach und nach (vielleicht auch erst nach wiederholtem Lesen) zu einem großen und reichen Tableau fügt.
Zudem erweist Frederic Wianka mit diesen Stilmitteln, aber auch mit dem von Vergeblichkeit und (Selbst-)Entfremdung geprägten Grundton einem anderen Autor seine Reverenz – Wolfgang Koeppen. Hier wie dort überlagern sich die Rollen des Erzählers, des Zeugen, des Betroffenen – des Außenstehenden und des Beteiligten; hier wie dort entziehen sich die Figuren einem eindeutigen Zugriff und lassen Identifikation nicht zu. Und hier wie dort zeigt sich die Erzählung als ein Element, das autobiographisches Sprechen gleichermaßen offenbart wie verdeckt.
Andere Bezüge – auf Johann Wolfgang Goethe oder auf Ulrich Plenzdorf – liegen auf der Hand; so beobachtet der Protagonist W. in einem ungarischen Café ein junges Mädchen, eine Kindergärtnerin, das ihm als Inbegriff von Schönheit erscheint; der Künstlerkollege, dem er sein Atelier überlässt, was abbrennt, nachdem der Strom abgestellt und dieser eine waghalsige Überbrückung konstruiert hat, heißt Edgar Wibeau.
Zu entdecken aber ist hier ein eigener, prägnanter, poetischer Ton in einem Text voller Spuren und Verweise, der sich mit der Zeit weit auffächert, der die einmal angedeuteten oder nicht auserzählten Szenen an anderer Stelle aufnimmt, einlöst und folgerichtig fortsetzt, und der Fragen verhandelt, die weit über die konkrete Situation der Figuren hinausreichen: Wie ergeht es dem Einzelnen in den unterschiedlichen politischen Systemen, die auf jeweils eigene Weise dem Individuum zusetzen, auf welche Weise „deformiert“ Diktaturerfahrung die Menschen, welche Äußerungsmöglichkeiten bleiben bestehen, wenn jegliche Äußerung gefährlich ist oder einfach umsonst?
Zu entdecken ist hier auch ein dialogstarker Autor, der etwa die Zurichtungen des DDR-Jargons nicht nur beherrscht, sondern karikierend einzusetzen weiß, und dessen Figurencharakterisierung in den sprachlichen Zuweisungen knapp aber präzise gezeichnet ist. In seiner ersten Nacht in Westberlin kommt es zum Gespräch zwischen Peter und W., der fragt: „Du denkst, ich komme hier nicht zurecht.“ Peters Antwort: „Westsender sehen ist nicht genug […] Ich denke gar nichts. Ich kenne dich nicht. Aber ich weiß dass du für dieses andere System sozialisiert worden bist.“ Später, in Tariks Dönerladen, sinnieren beide über die Unterschiede zwischen Ost und West, und W. sagt: „Kannst du dir vorstellen, dass ich mich für jedes Ja im Nachhinein schäme und ärgere, jenseits aller damaligen Vorsicht?“ Die dialogreichen Szenen würzen den Text nicht nur kräftig, sie liefern auch konkrete Hinweise auf das Geschehen, die die Erzählung oft im Ungefähren lässt.
Das Buch lässt den Leser mit offenen Fragen zurück, mit dem Gefühl, nicht fertig zu sein, und dem Verdacht, das Lektorat hätte stärkere Schneisen schlagen müssen dort, wo der erzählerischen Raffinesse ihre Disziplin abhandengekommen ist. Gleichwohl ist Frederic Wianka ein großes Buch gelungen, das seine Qualitäten auf der langen Strecke voll entfaltet.
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