Die Wahrheit der Lügen eines großen Erzählers

Zum 85. Geburtstag des großen peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Arequipa 2010: Mario Vargas Llosa wurde gerade der Nobelpreis verliehen, Poster mit einem souverän lächelnden Autor zierten die Buchhandlungen in seiner peruanischen Geburtsstadt. Man war einerseits stolz, andererseits skeptisch gegenüber dem internationalen Literaturstar, der nicht erst nach seiner Niederlage als Präsidentschaftskandidat 1990, sondern bereits in jungen Jahren seiner Heimat immer wieder verächtlich den Rücken kehrte und den Aufenthalt in europäischen Metropolen bevorzugte. 

2010 war ich zum ersten Mal in Peru, forschte zu Vargas Llosas Andinismus und traf in Arequipas pittoreskem Stadtzentrum mit seiner harmonischen Kolonialarchitektur zufälligerweise auf einen angeblichen Verwandten des neuen Nobelpreisträgers. Ich kam gerade mit einer verdächtig preiswerten Ausgabe von La utopía arcaica von einem „Bücherflohmarkt“, der wohl eher als eine Art Schwarzmarkt zu bezeichnen wäre, und traf auf einen älteren Herren, der mich darauf hinwies, dass es sich um eine ganz schlechte Ausgabe handele, die keinen Sol verdiene. Nebenbei erwähnte er, dass er Mario sehr gut kenne – er sei nämlich ein Verwandter und auf den gerade Prämierten ganz besonders stolz. Diese Begegnung ließ mich meine Raubkopie vergessen, wir machten ein Foto, untergehakt vor dem Poster mit „Marito“, und ich versprach, bald zu schreiben und das Foto zu schicken, wobei ich selbstverständlich ebenso flunkerte wie mein neuer Freund.

Rückblickend wird mir anhand dieser Episode ein poetologisches Prinzip klar, das Vargas Llosa immer wieder betont: Die Wahrheit der Lügen. In seinem poetologischen Essay Die Wahrheit der Lügen (1990) erklärt er, dass Romane, indem sie lügen, uns eine Perspektive bieten, die das wahre Leben verwehrt. Fiktionen kompensieren die Unzulänglichkeiten des Lebens, womit dem Erzählen ein ganz besonderer Stellenwert zukommt. In seiner Nobelpreisrede hat er diese Bedeutung erneut hervorgehoben: „Wir denken uns Geschichten aus, um auf irgendeine Weise die vielen Leben zu leben, die wir gern leben würden, während wir gerade mal über eins verfügen.“

Metaliterarische Reflexionen dieser Art gehören zu Vargas Llosas breit angelegtem Œuvre, das neben Romanen verschiedener Genres – die bekanntesten sind wohl Die Stadt und die Hunde (1962), Das Fest des Ziegenbocks (2000) oder Der Traum des Kelten (2010)  – auch Theaterstücke und Essaybände umfasst. Beeinflusst von Flaubert – siehe dazu seine Untersuchung La orgia perpetua. Flaubert y „Madame Bovary“ (1975) (dt. Die ewige Orgie: Flaubert und „Madame Bovary“) – sowie Balzac, Tolstoj, Faulkner, Sartre und nicht zuletzt vom valencianischen Ritterroman-Autor Joanot Martorell, entwickelt er komplexe Erzähltechniken, spielt mit Zeitsprüngen ebenso gerne wie mit der Kombination verschiedener Erzählperspektiven und Handlungsstränge, Fragmentierung oder intertextuellen Bezügen.

Deklarierte der Boom-Autor in den 1960er Jahren Literatur zur Form permanenter Rebellion (La literatura es fuego (1967), dt. Literatur ist Feuer) und erklärte Protest, Widerspruch und Kritik als Aufgaben des Schriftstellers, so ließ dieses von Sartre inspirierte Engagement des jungen Schriftstellers vor allem nach dem Bruch mit Fidel Castro nach: Seine frühen sozialistischen Ideale gab er immer mehr zu Gunsten neoliberalistischer Ideen auf. 

Auch in seine Romanen bettet Vargas Llosa Reflexionen über das Schreiben und das Schriftstellerdasein immer wieder ein: Für den wohl witzigsten von diesen, Tante Julia und der Kunstschreiber (1977), der als Parodie auf Trivialliteratur zu lesen ist und einen Autor porträtiert, der irgendwann nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann, hat er ein wunderbares und ebenso ironisches Zitat des mexikanischen Schriftstellers Salvador Elizondo (1932–2006) über das Schreiben als Motto gewählt:

Ich schreibe. Ich schreibe dass ich schreibe. Im Geiste sehe ich wie ich schreibe dass ich schreibe und mir dabei zusehe wie ich sehe dass ich schreibe. In meiner Erinnerung schrieb ich schon und sah mir zu wie ich schrieb. Und ich sehe wie ich mich erinnere dass ich sehe wie ich schreibe und mich erinnere wie ich sehe dass ich mich erinnere wie ich schrieb und schreibe während ich sehe wie ich schreibe dass ich mich erinnere gesehen zu haben wie ich schrieb dass ich sah wie ich schrieb in meiner Erinnerung gesehen zu haben wie ich schrieb dass ich schrieb und dass ich schrieb dass ich schreibe dass ich schrieb. Ich kann mir auch vorstellen wie ich schreibe ich hätte schon geschrieben ich würde mir vorstellen wie ich schreibe ich hätte geschrieben ich stellte mir vor wie ich schreibe dass ich sehe wie ich schreibe dass ich schreibe.

Weltruhm erlangte der Boom-Autor mit seinem erstem Roman Die Stadt und die Hunde (1962), der in Spanien preisgekrönt und in Peru verbrannt wurde. Vargas Llosa schildert hier die grausamen Rituale und Strukturen in einer Kadettenanstalt, die als Mikrokosmos der peruanischen Gesellschaft unter der Diktatur des Generals Odría (1948–56) betrachtet werden kann. Nach Das grüne Haus (1966) und Gespräch in der Kathedrale (1969) widmete sich Vargas Llosa erneut Peru und der peruanischen Gesellschaft, vor allem der indigenen Bevölkerung im Amazonas-Gebiet (Der Geschichtenerzähler, 1987) und im Andenhochland. Vargas Llosa erweist sich hier als literarischer Andinist, der die Gebirgskette auf dramatische Weise personifiziert.

In Maytas Geschichte (1984) stehen die politischen Tätigkeiten eines Trotzkisten und eine gescheiterte Revolution im Andenhochland im Mittelpunkt. Lituma en los Andes (1993) (dt. Lituma in den Anden) entstand zu einer Zeit, in der sich die Situation der Indios verschlechtert hatte, der Coca-Anbau blühte und die Terrororganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) ihr Unwesen trieb. Ziel der maoistischen Gruppe war eine Agrarisierung der peruanischen Gesellschaft, wobei die indigenen Bauern das Rückgrat bilden sollten. Augenzwinkernd preist Vargas Llosa durch seinen Protagonisten, den Korporal Lituma, der übrigens immer wieder in Vargas Llosas Werk auftaucht, die Stadt, in der er aufwuchs, Piura. Nicht nur die Frauen aus Piura werden angehimmelt, der von Heimweh geplagte Lituma sehnt sich nach „einer warmen piuranischen Nacht mit Sternen, valses und dem Geruch nach Ziegen und Johannisbrotbäumen.“ 

Neben den internationalen Autoren ist es vor allem ein peruanischer Autor, der Vargas Llosa nachhaltig beeinflusst hat: José Maria Arguedas. In La utopía arcaica. José María Arguedas y las ficciones del indigenismo (1996) beschreibt er die Konservierung der prähispanischen Vergangenheit in Form des Indigenismus als literarische Utopie. Auch wenn sich der Autor physisch von Peru entfernte, so ist sein Heimatland – ob das neblige, kontrastreiche Lima mit Schauplätzen zwischen dem düsteren Hafenviertel Callao und dem schicken San Isidro, dem Andenhochland oder dem Amazonas-Gebiet –, inklusive Politik, Kultur und Persönlichkeiten zentrales Thema seines Gesamtwerks. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Roman Das Paradies ist anderswo (2003), der sich der – leider viel zu wenig beachteten –  französisch-peruanischen Frauenrechtlerin Flora Tristan und ihrem Enkel, dem wesentlich berühmteren Paul Gauguin, widmet.

Um es allerdings ganz unverblümt zu sagen: Mein Verhältnis zu Mario Vargas Llosa ist gespalten. Den Vargas Llosa vor der Verleihung des Nobelpreises halte ich für wesentlich spannender als den der letzten Dekade. Von keinem seiner letzten Bücher in den vergangenen Jahren war ich wirklich überzeugt, vielmehr ließ ich gerne mal Kritik hageln. In seinem letzten Roman Harte Jahre (2020), der sich den Machtinteressen der United Fruit Company widmet, die zu Beginn der Fünfzigerjahre ihren Durchbruch hatte und ihr Netz über Mittelamerika und mehrere karibische Inseln spannte, scheint er über guatemaltekischer Geschichte fast ein bisschen das Erzählen zu vergessen. Doch zum Glück schimmert manchmal der vertraute Vargas Llosa durch, der große Erzähler. So zum Beispiel in einer kleinen Szene in einem Bordell – beliebter Vargas Llosa’scher Schauplatz – in Guatemala Stadt, wenn bei Rum und den Boleros von Leo Marini und einem Sägespäne kehrenden Indio im zerrissenen Baumwollhemd Pläne geschmiedet werden.     

Und auch seine kulturpessimistischen Ansichten, die in dem Essayband Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (2012) zusammengestellt wurden, sind eine eher schockierende Jammertirade auf die Kultur der Gegenwart, die außerdem einen widersprüchlichen Vargas Llosa entlarvt: Verdammt Vargas Llosa hier eine Kultur des „Spektakels“, nämlich der Unterhaltung – und journalistische Produkte wie das spanischsprachige Klatschblatt ¡Hola! - so mag es doch etwas verwundern, wenn der Autor ein paar Jahre später mit seiner neuen Partnerin, der 15 Jahre jüngeren Isabel Preysler, ehemaliges  Model, Ex-Frau von Julio Iglesias und Journalistin bei ¡Hola!, auf dem Titelbild des Boulevardmagazins mit dem Titel „Descubrimos las exóticas y románticas vacaciones de Isabel y Mario“ („Wir haben die exotischen und romantischen Ferien von Isabel und Mario entdeckt“) erscheint.

Doch dieser Fauxpas sei ihm – wie übrigens auch sein machismo – verziehen. Kaum ein anderer Autor beherrscht das Erzählen so meisterhaft wie Vargas Llosa: Er bleibt einer der größten Erzähler der Gegenwart, dessen Lügen mir immer wieder dabei helfen, neue Wahrheiten zu entdecken. Vargas Llosa zu lesen, bedeutet, sich auf einen stromartigen Leserausch einzulassen, der erst aufhört, wenn der Roman zu Ende ist.