DER WACKERE PROVOKATEUR

(1963)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Wenn heute das Gespräch auf Martin Walser kommt, wird das Buch, mit dem er 1955 seine literarische Laufbahn begann, der Prosaband Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten[1], meist mit einem raschen Hinweis auf Kafka abgetan. Walser, der 1927 geboren wurde und 1951 über Formprobleme im Werk Franz Kafkas promoviert hatte, habe in diesen ersten Prosastücken, heißt es, noch ganz im Banne seines bewunderten Meisters gestanden. Die Erzählungen seien nicht mehr als Stilübungen eines Anfängers.

Auf die Schule Kafkas wurde sogar im Klappentext hingewiesen; übrigens hielt es der Verlag damals kurioserweise für notwendig, die Tatsache dieser Publikation vor den Lesern zu rechtfertigen: Er betonte, er habe die Geschichten Walsers publiziert, um dem jungen Mann »Mut zu seiner Eigenart zu geben«. Mithin scheint der Erstling seine Veröffentlichung vornehmlich karitativ-didaktischen Regungen verdankt zu haben. Die Kritiker der späteren Bücher Walsers haben sich um seine frühe Prosa nicht mehr gekümmert. Der Name Kafka wurde in den Rezensionen von den Namen anderer Meister abgelöst, denen Walser angeblich nacheifere. Fast ergibt sich der Eindruck, er habe eine radikale Metamorphose durchgemacht: Im Laufe weniger Jahre sei aus dem zarten poetischen Kafka-Jünger der wuchtig-grimmige Halbzeit-Chronist geworden. Sollten das tatsächlich zwei verschiedene Gestalten sein, die so gut wie nichts mehr miteinander gemein haben? Zeugt also der inzwischen schon vergessene Erstling lediglich von längst überwundenen Ausgangspositionen Walsers?

Geschützter Bereich von literaturkritik.de