Böll, der Moralist

(1963)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Keinem deutschen Schriftsteller der nach 1945 zu schreiben begann, hat die Literaturkritik soviel Aufmerksamkeit gewidmet wie Heinrich Böll. Zugleich gingen in keinem anderen Fall die Ansichten der Kritiker so weit auseinander. Denn der Publikumserfolg, der Böll in Deutschland seit 1953 zuteil wird, und die Anerkennung, die seine Werke im Ausland finden, haben auch diejenigen Kritiker, die ihn offenbar ignorieren wollten, zur Stellungnahme gezwungen. Diese Urteile scheinen auf den ersten Blick voneinander unabhängig zu sein. Bei näherer Betrachtung hingegen erweisen sich die literarkritischen Monologe als Teile eines fortwährenden Dialogs. Mögen also manche Rezensenten den Eindruck erwecken wollen, sie wüßten nicht von den Auffassungen ihrer Kollegen, so ist es doch augenscheinlich, daß hier gegenseitige Wirkungen und ursächliche Zusammenhänge bestehen, freilich meist reziproker Art. Anders ausgedrückt: Die begeisterte Zustimmung, die Böll von einem Teil der Kritik gezollt wurde, veranlaßte andere Kritiker, ihre Mißbilligung um so nachdrücklicher zu betonen, was wiederum zu noch lauteren Beifallsbezeugungen führte.

Da jedoch in der Hitze eines derartigen getarnten polemischen Gefechts in der Regel beide Seiten zu Vereinfachungen neigen, zeichnen sich viele Urteile über Bücher durch Einseitigkeit und Extremismus aus. Und nicht nur das. Befragt nach den Aufgaben der literarischen Kritik, sagte Böll unter anderem: „Die Kritik … sollte nicht von einem bestimmten Autor bestimmte Dinge erwarten, ihn auf etwas festlegen und ihm für seine ganze Laufbahn einen Stempel aufdrücken.“ Böll hat zu dieser Klage Anlaß genug. Er wurde in der Diskussion, die sein Werk ausgelöst hat, immer wieder von seinen Gegnern wie von seinen Anhängern eingestuft und abgestempelt, mit Schlagworten bedacht und mit Etiketts versehen.

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