Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Kaum ein Literaturstreit der deutschen Nachkriegsgeschichte hat so viel öffentliche Aufmerksamkeit gefunden wie der, der Anfang Juni 1990 mit scharfen Angriffen auf Christa Wolf und ihre Erzählung Was bleibt begann. In westdeutschen Feuilletons entfacht, beschäftigte er hierzulande bald auch Leitartikel auf den politischen Seiten der großen Zeitungen, und seine Resonanz reichte rasch über die Grenzen Deutschlands und Europas hinaus. In Paris berichtete am 3. August Le Monde über die „Polemik um Christa Wolf“, und einen Monat später griff der französische Kulturminister Jack Lang persönlich in die Debatte ein. In London hatte schon am 8. Juli der Observer seine Leser über den Streit informiert, und am 24. August erschien in der New York Times ein Artikel zum Thema.

Welche außergewöhnliche Bedeutung in Deutschland die Frankfurter Allgemeine Zeitung dem Streit beimaß, läßt sich an ihrer „Jahres-Chronik 1990“ vom 29. Dezember ablesen. Sie enthält knappe Informationen zu den wichtigsten Ereignissen der vergangenen zwölf Monate. „3. Oktober. Deutschland ist wieder vereint. Um null Uhr wird unter dem Jubel der Menschen die schwarz-rot-goldene Flagge vor dem Reichtstagsgebäude in Berlin gehißt.“ So beginnt ein Abschnitt der Chronik. Zwischen Kurzberichten über die ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März oder über das Ultimatum des UN-Sicherheitsrats an Saddam Hussein am 30. November findet sich unter der Überschrift Deutscher Literaturstreit und dem Datum 10. Juni der folgende Eintrag:

Geschützter Bereich von literaturkritik.de