Initiation des Streits

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Noch bevor Christa Wolfs Erzählung Was bleibt im Buchhandel erhältlich war, erschienen in der Zeit vom 1. Juni 1990 und in der FAZ vom 2. Juni 1990, also fast zeitgleich, die Rezensionen Ulrich Greiners und Frank Schirrmachers (siehe unten). Beide nahmen die Erzählung zum Anlaß, die politische Haltung der im Osten wie im Westen hochangesehenen Schriftstellerin einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Allein die Tatsache, daß in den beiden wohl einflußreichsten Feuilletons der Bundesrepublik zur gleichen Zeit zwei umfangreiche Artikel mit gleicher Tendenz erschienen, potenzierte die Wirkung jedes einzelnen. Die große Koalition, die der Feuilleton-Chef der Zeit und der Leiter des Literaturteils der FAZ hier einzugehen schienen, wurde offensichtlich als erhebliche Störung des Gleichgewichts im intellektuellen Kräftefeld der Bundesrepublik empfunden. Daß sich gerade auch im Streit um Christa Wolf die nach wie vor gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Feuilletons von Beginn an deutlich zeigten, wurde von vielen übersehen. Während nämlich das der FAZ in dem Streit kontinuierlich und konsequent die gleiche Einstellung verfocht, entsprach es dem liberalen Diskussionsstil der Zeit, daß neben dem Artikel Greiners ein Gegenartikel von Volker Hage zu lesen war. Es war also auch ein redaktionsinterner Streit, den die Zeit vor der Öffentlichkeit führte, und in ihrem Feuilleton erschienen weiterhin völlig gegensätzliche Stellungnahmen.

Wie schon 1987 hatte auch diesmal Marcel Reich-Ranicki maßgeblichen Anteil an der Initiation des Streits. Er war es in der Tat, der, wie Günter Grass in einem am 16. Juli 1990 veröffentlichten Spiegel-Gespräch feststellte, „das Signal zur Attacke gegen Christa Wolf gab“ (siehe unten). Drei Wochen nach der Öffnung der Grenze, am 30. November 1989, leitete er die Debatte in seiner Fernsehsendung Das Literarische Quartett mit folgenden Worten ein: „In Deutschland hat eine Revolution stattgefunden. Und wann immer auf dieser Erde eine Revolution stattfindet, erzählen Schriftsteller gern, sie, die Schriftsteller, hätten dazu wesentlich beigetragen. Wie ist das, haben eigentlich in der DDR die Schriftsteller gesiegt oder versagt?“ Die Diskussion zwischen Reich-Ranicki, Klara Obermüller (Weltwoche, Zürich), Sigrid Löffler (Profil, Wien) und Hellmuth Karasek (Spiegel, Hamburg) nahm den später in den Feuilletons ausgetragenen Streit in vieler Hinsicht vorweg. Schon hier ging es nicht allein um Christa Wolf, sondern ihr politisches Verhalten wurde neben dem Stephan Hermlins oder Stefan Heyms unter allgemeineren Fragestellungen diskutiert:

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