Umsehen im Eingemachten

In seinen neuen Gedichten bleibt Volker Braun seinem von jeher kritischen Blick auf unsere Welt treu

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit neun Jahren hat Volker Braun keinen Lyrikband mehr veröffentlicht. Geschrieben hat er das, was er als den „Kern der Arbeit, das beiläufige Eigentliche“ bezeichnet, freilich immer. Neben den Prosatexten, der Arbeit für das Theater und an den beiden großen Tagebuchbänden – Werktage 1 (2009)und Werktage 2 (2014) – entstanden stets auch Gedichte. Wobei man „beiläufig“ nicht im Sinne von „nebensächlich“ oder gar „marginal“, sondern als tatsächlich „nebenherlaufend“ oder „die anderen Werke begleitend“ verstehen sollte und „das Eigentliche“ ganz im Wortsinne. Mit Gedichten hat der heute 77-Jährige einst begonnen – sein Lyrikdebütband Provokation für mich erschien1965 – und Gedichte hat er auch immer dann benutzt, wenn es galt, schnell und operativ auf ein Ereignis der Zeitgeschichte zu reagieren: Man denke nur an das berühmte, häufig missverstandene und in seinem Gestus zwischen Trauer und Lakonie schwankende Das Eigentum, Brauns Kommentar zur deutschen Wiedervereinigung 1990, der mit der Zeile endete: „Wann sag ich wieder mein und meine alle.“

Nun also, nach elf Jahren ohne Lyriksammlung, die Handbibliothek der Unbehausten. Braun hat die auf den knapp 100 Seiten versammelten Gedichte, deren älteste bereits im Vorwendejahrzehnt entstanden sind, in vier Abteilungen einsortiert, denen er zum besseren Verständnis einzelner Texte einen kleinen Anmerkungs-Apparat nachgestellt hat.

Unter Dämon, wie die erste Abteilung überschrieben ist, finden sich Texte, die Zeugnis davon ablegen, dass des Dichters Sehnen nach wie vor „ins  Ferne“ geht, er von einem Geist beherrscht wird, der sich mit dem status quo der jeweiligen Gegenwart nicht abzufinden bereit ist. Dotterleben schärft den Blick danach für kritische Zeit- und Gesellschaftsanalysen. La traboule, auf deutsch etwa „Durchgang“ oder „Übergang“, besteht im Wesentlichen aus zwölf streng gebauten, einstrophigen Gedichttexten. Sie sind auf Reisen nach Paris und Lwiw, Belfast und Dubai, Rheinsberg und Paris, an die Ostsee und ins Mansfelder Land entstanden. Wilderness schließlich, das sich auf Verse in Miltons Paradise lost bezieht, kommt als ein in zehn Unterpunkte zerfallendes Langgedicht daher. Ein Anhang mit dem Titel Zeitgeist 2 beendet das Bändchen und schließt gleichzeitig den zeitlichen Graben zu des Dichters letztem Lyrikband Auf die schönen Possen (2005), der ebenfalls mit den „Zeitgeist“ beschwörenden Gedichten endete.

Was das thematische Spektrum der neuen Gedichte betrifft, so ist es weit gespannt: Naturlyrik (Steinbrech) steht neben politischen Einmischungen (Das beschädigte Parlament, Das Elbtal), Privates (Todesstunde, Stammbaum, Das Wolfgang Heisesche Collegium) neben gesellschaftlich Relevantem (Die Gesellschaft), Reisegedichte (Beijingnan Railway Station, Tweet, Vor den Ruinen, Santorin ) neben Auseinandersetzungen mit Alter, Krankheit und Tod (Die Wunde, Die Befunde) sowie Texten mit deutlichen Bezügen zu anderen Werken des Dichters (Die Mettenschicht).

Dass Braun zunehmend wieder dem Reim vertraut, ist so überraschend nicht, blickt man auf seine Lyrikproduktion in den Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung zurück. Nicht neu auch die Verzahnung des eigenen Werks mit dem seiner Vorbilder. So sind die Brecht-Anklänge mehr als deutlich (Der vertriebene Dante, Inbesitznahme der großen Rolltreppe durch die medellíner Slumbewohner am 27. Dezember 2011). In Prism fliegt dem Bürger „vom spitzen Kopf der Hut“ wie einst, 1911, in Jakob van Hoddisʼ Weltende, nur dass Braun ein Jahrhundert später lebt, in einer Zeit, wo ihm „spähübel“ von der allgemeinen Datensammelei weltweit werden will. Schwerer erschließen sich dem heutigen Leser Anspielungen auf Fritz Rudolf Friesʼ (1935–2014) Roman Verlegung eines mittleren Reiches (1984) und die IM-Tätigkeit dieses Autors für die Staatssicherheit der DDR sowie Bezugnahmen auf die Braun-Freunde Dieter Schlenstedt (1932–2012) und Wolfgang Heise (1925–1987), Literaturwissenschaftler der eine, Philosoph der andere.

Alles in allem tritt Volker Braun auch in Handbibliothek der Unbehausten als der kritische Zeitgenosse auf, der er immer gewesen ist. „Ein schöner Tag. Mein zweiundsiebtes Jahr./ Kein Lüftchen weht. Wie war es, als ich glücklich war.“, notiert er am 7.5.11, seinem Geburtstag, wie auch der Titel des einzigen Zweizeilers im Band überschrieben ist. Hier darf man Melancholie herauslesen, ebenso eine gewisse Müdigkeit, die allerdings nicht bis zum Verzweifeln an den Dingen reicht. Es ist wohl mehr die Klage eines in die selbst gewählte Sisyphosarbeit Eingespannten, der nach wie vor an den eigenen Vorstellungen von Glück und Zufriedenheit festhält, auch wenn der Weg zu paradiesischen Zuständen ihm heute mindestens genauso weit zu sein scheint, wie er bereits vor 30 Jahren unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen gewesen ist.

Doch aufgrund dessen zu resignieren, fällt Volker Braun auch in seinem achten Lebensjahrzehnt nicht ein. Er und seine Gedichte sind etwas erdenschwerer geworden. Die große Utopie scheint vorerst verabschiedet zu sein. Die Identifikation mit der nun gefundenen Rolle aber funktioniert: „Und so gern ich mich erhebe/Zieht mich eine Last nach unten/Eingenäht in mein Gewebe/ Hat sie ihren Ort gefunden.“, liest man unter der programmatischen Überschrift Bestimmung in den Einleitungsversen zur Handbibibliothek der Unbehausten.

„Jetzt gehts ans Konto, an das Eingemachte“, heißt es zu Beginn des Bilanzgedichtes Kassensturz. Es in eine Reihe zu stellen mit früheren, ähnlich strukturierten Texten, sich als Lyriker und Mensch seiner jeweiligen Position in den Auseinandersetzungen der Zeit zu versichern – Das Eigentum gehört genauso in diese Reihe wie Das Lehen aus dem Band Langsamer knirschender Morgen von 1987 – ist wohl so falsch nicht.

Das Bild, das Braun in seinen zwölf Zeilen von unserer Gegenwart, wie er sie sieht, zeichnet, ist einigermaßen desillusionierend. Dahin der revolutionäre Elan, den der Dichter in der Wendezeit zu verspüren schien: „Ihr zogt zuhauf und ließt die Seele reisen/ Und wart das Volk“. Vorbei die Illusion, es könne für die meisten ein Ideal jenseits von jahrzehntelang unterdrückten Konsumwünschen geben: „Das ganze Leben warfen wir inn Handel/ Wir glauben gerne, daß es sich verwandel“. Und schließlich das Fazit: „Was sind wir noch zum Schein, was sind wir schon?/ Ein Bettelvolk. Ich sags auch mir zum Hohn.“ In Braun aufgrund dieser Zeilen einen Ewiggestrigen zu sehen, dürfte dennoch sowohl an dem Mann als auch an seinen Texten vorbeigehen. Denn hier hängt einer nach wie vor am Leitbild eines Gemeinwesens, wie es die DDR, der Staat, den Braun lange Zeit kritisch mitgestalten wollte, eben gerade nicht war.

Titelbild

Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten. Neue Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
109 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425435

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