„Du sollst nicht töten“ – eine neue Einladung zum Mitdenken

Jacques Derridas Seminar „Die Todesstrafe I“ bietet Analysen zur Abschaffung einer Strafform

Von Andreas JackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Jacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einige der Thesen seines Seminars Die Todesstrafe hat Jacques Derrida in nuce bereits in dem Band Woraus wird Morgen gemacht sein? (2006) im Dialog mit Élisabeth Roudinesco entwickelt. Umso spannender ist es, nun endlich den Blick auf die Details werfen zu können und die Fülle der zugrunde liegenden Themen in ihrer Entwicklung und Verknüpfung genauer zu beobachten. Die Publikation von Derridas Seminaren als unnötiges Auswalzen bereits bekannter Kontexte zu verstehen, würde verkennen, wie sehr sich gerade dieser Philosoph, der sich immer wieder gegen abschließende Resultate gewehrt hat, in seiner Werkstatt laboriert, um behutsam die großen Kontexte herauszuschälen. Die Verkürzungen, die beim Resümieren üblich sind, ließen seine Beschäftigung mit dem Thema bisher nur erahnen. In seinen Seminaren agierte er zudem kaum anders als in seinen Texten, denn seine Reden wurde nie frei gehalten, er war kein Phonozentrist, sondern es lag immer ein Script zugrunde, das er vorher sorgfältig niedergeschrieben hatte. Die Schrift ging also auch hier dem gesprochenen Wort voraus.

Die Veröffentlichung seiner Seminare erfolgt bis jetzt chronologisch in umgekehrter Reihenfolge, sodass mit Die Todesstrafe I Seminar 1999–2000 sein vorletztes Seminar erschien. Das ist sinnvoll, da Derrida stets an der aktuellen politischen Debatten seiner Zeit partizipierte und sich die späteren Seminare enger mit unserer Gegenwart verbinden.

Die Todesstrafe beschäftigte den Philosophen bereits länger. Er hatte am Anfang der 1990er Jahre in seinem Kommentar zu Walter Benjamins Text Gesetzeskraft schon über ihre Bedeutung gesprochen. Die Todesstrafe sei eben keine unter vielen, sondern in ihr manifestiere sich am deutlichsten die gewalttätige Setzung des Rechts, ihre Willkür oder, um es mit einem Begriff von Carl Schmitt zu sagen, ihr Dezisionismus. Da wo das Recht so weit geht über die Existenz eines Menschen zu entscheiden, wo seine Gewalt absolut wird, wird sein gewaltsamer Ursprung deutlich. Wer die Todesstrafe infrage stellt, stellt damit nach Derrida auch die Figur des Souveräns der Souveränität eines Staates infrage, die nicht allein auf der aufgeklärten Forderung nach Gerechtigkeit, sondern auf einem mystischen und gewalttätigen (Ab-)Grund basiert. Das Gewaltmonopol des Staates kulminiert in der Entscheidung über Leben und Tod eines Bürgers und genau diese potenzielle Macht ist fragwürdig und stellt die Demokratie selbst infrage, weil sie diese erschüttern kann.

Anders als in seinen früheren Überlegung geht Derrida das Thema aber am Ende der 1990er Jahre viel breiter und historischer an und kommt zu einem weitaus komplexeren Begründungszusammenhang. Weiterhin fungiert die Todesstrafe dabei jedoch als ein zentrales Motiv innerhalb der Rechtsprechung. Anhand von vier exemplarischen, paradigmatischen und prototypischen Persönlichkeiten soll das Thema erläutert werden. Die Rechtsfälle, zeigen jeweils große, emblematische Figuren.

Die erste Szene ist die berühmte Liquidation des Sokrates, der mittels eines Becher Giftes genötigt wurde, sich umzubringen. Seine Schuld bestand darin, häretisch die Götter des Gemeinwesens nicht geehrt und die Jugend heteroorthodox zu anderen, neuen Göttern verführt zu haben. Es ist die souveräne Staatsmacht, die ihn dessen beschuldigt. Paradigmatisch ist hier schon die Verbindung von religiösen Interessen, die mit staatlicher Autorität verfolgt werden. Dabei gab es im griechischen Gesetz noch Schlimmeres als die Hinrichtung, nämlich die Verweigerung der Beerdigung und damit das Absprechen jeglicher Menschenwürde. Ein Drama, das in der Antigone des Sophokles ausführlich vorgeführt wurde.

Nach Sokrates befasst sich Derrida mit den Fällen des Juden Jesus, des Moslem Al-Halladsch und der Katholikin Jeanne d’Arc. Allerdings findet in diesem ersten Teil des Seminars nur noch eine genaue Besprechung des theatralen Paradigmas Jesu statt, der Viktor Hugo und Friedrich Nietzsche gleichermaßen beschäftigte. Den Gesamtzusammenhang seiner vier Fälle macht Derrida jedoch sofort evident: Alle Beschuldigten wurden am Ende nicht wirklich verurteilt, weil sie nicht gottesfürchtig gewesen wären,sondern vielmehr, weil sie den Anspruch hatten, eine neue, eigensinnige und direktere Verbindung zur Transzendenz herzustellen. Jesus, Jeanne d’Arc und Al-Halladsch konnten eins werden mit ihrem jeweiligen Gott – aber auch Sokrates hörte schon die Stimme eines Daimons, der ihn leitete.

Im Anschluss an die Analyse, warum die Todesstrafe über diesen Athener verhängt wurde, widmet sich Derrida der Bibel, also der Jerusalemer Tradition. Zusammen bilden beide die größten kanonischen Wirkungskräfte innerhalb der Rechtsgeschichte des Abendlandes. Im Alten Testament werden im zweiten Buch Mose zwei Arten des Tötens unterschieden: die eine ist der persönliche betriebene Mord, der durch das nach Emmanuel Levinas wichtigste der Zehn Gebote ausdrücklich verboten wurde. Es war Gott selbst, der vom Berg Sinai hinabstieg und dem gesamten jüdischen Volk seine Gebote verkündete, darunter jenes berühmte Verbot: „Du sollst nicht töten.“ Das hinderte Gott aber nicht daran, ein paar Atemzüge später – nunmehr nicht selbst, sondern durch Mose als Mittelsmann – dem Volk auch sein Gesetzbuch zu diktieren, in dem steht, dass alle diejenigen, die dennoch morden würden, umgehend zum Tode verurteilt werden sollen. Es gibt demnach eine Differenz zwischen zwei Toden: der verbotene Mord an einer Privatperson und die öffentliche Exekution eines Delinquenten, der, weil er gegen die Regeln des Gemeinwesen verstoßen hat, von diesem aufgrund eines gerichtlichen Urteils hingerichtet werden muss. Durch die Einführung eines Dritten, der das Gesetz verkörpert, haben diese beiden Tötungen keinerlei Affinität zueinander. Während der Mord die Rechte des Gemeinwesens verletzt, stellt die Todesstrafe in dieser ursprünglich von Gott stammenden Logik, diese auch wieder her. Es wird eben diese Logik gewesen sein, die die gesamte abendländische Diskussion zu dem Thema bestimmt und eine Tradition legitimiert, in der sich nahezu alle Philosophen für die Ausübung der Todesstrafe entschieden haben, in der ein Mörder den Tod unbedingt verdient. Die von Anfang an bestehende enge Verklammerung zwischen Religion und Recht erfordert nach Derrida eine langwierigen Analyse- und Dekonstruktionsarbeit des Theologisch-Politischen.

Mithilfe von Jean Genet und Michel Foucault illustriert er die theatrale, grausame Ebene, die zu jeder Hinrichtung dazugehört. Es gibt ein Filmgenre, das sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat und oftmals den Countdown bis zur Hinrichtung mit vielen äußerst brisanten Wendungen dramaturgisch exzellent zu steigern weiß. Derrida nennt mit True Crime (1999) und Dead Man Walking (1995) zwei Beispiele dafür. Einerseits, meint er, erreichen solche Filme eine hohe emotionale Beteiligung der Zuschauer, andererseits packen sie das Thema jedoch nicht an ihrer Wurzel an, weil sie zwar die unmenschliche Grausamkeit der Todesstrafe zeigen und verurteilen, ihre Kritik aber nicht bis zu der juristischen Ebene vordringt und das Prinzip dieser Strafform weder erfassen noch nachvollziehen und damit auch nicht negieren kann.

Dahinter verbirgt sich eine grundlegende These seines Seminars: Eine reine Anklage der Grausamkeit reicht keineswegs aus, um die generelle Abschaffung der Todesstrafe auf Dauer zu erreichen. Es ist daher ein Kardinalfehler innerhalb der Debatte, dass ihre Gegner oftmals vornehmlich auf dieser Ebene argumentiert haben. Wie Derrida sehr eindringlich am Beispiel der USA zeigt, ist es möglich, die Grausamkeit zu mildern und dabei die Verfahrensweise dennoch grundsätzlich beizubehalten. Es geht im Grunde immer darum, die Position des Souveräns, der höchsten Machtform eines Staates, infrage stellen und ersetzen zu können. Es ist der Souverän, dessen Machtposition nach Carl Schmitt darauf basiert, wer die Gewalt hat, darüber zu entscheiden, ob es eine Ausnahme gibt oder nicht (die Todesstrafe wird oftmals als Ausnahmeregelung, als eine Art Notstandsgesetz betrachtet). Es ist der Gouverneur, der im letzten Augenblick per Telefon, die Aufhebung der Exekution veranlassen kann, das ist die letzte Hoffnung, die der Delinquent haben kann. Die Ausnahmeregelung belastet aber stets den gesamten juristischen Apparat, der durch sie auf wackligem Boden steht. Die Beibehaltung der Todesstrafe kann die gesamte Rechtsordnung eines Landes in Frage stellen. Es geht Derrida aber nicht bloß um ihre Abschaffung, sondern um die Schaffung einer anderen Rechtsstruktur.

Über weite Strecken des Seminars findet eine eingehende Beschäftigung mit der Debatte zur Abschaffung der Todesstrafe in der Zeit des Millenniums statt, wobei vor allem die USA in den Fokus genommen wird. Da einige Bundesstaaten diese Strafform nicht abgeschafft haben, ist diese Diskussion darum aber keineswegs beendet und es kann jederzeit bei veränderten politischen Bedingungen die Rate der Liquidierten, die aktuell sehr niedrig ist, prinzipiell wieder zunehmen. Die Koordinaten, in denen die gegenwärtige Diskussion verläuft, haben sich nicht grundlegend geändert: 2018 hat sich zwar der Vatikan durch ein von Papst Franziskus iniiertes Dekret ausdrücklich gegen die Todesstrafe ausgesprochen (worauf die Herausgeber in zwei Fußnoten hinweisen), die Argumentation der katholischen Kirche verlief aber ganz in dem von Derrida benannten Koordinatensystem. Sie lautete, dass ein Mensch auch dann seine Würde nicht verliere, wenn er ein schweres Verbrechen begangen habe.

Derrida behandelt das Thema zudem auf vielen historischen Schauplätzen. So wird die für Frankreich belastende Serie der Enthauptungen während der Französischen Revolution herangezogen, die Victor Hugo 50 Jahre später dazu veranlasste, die endgültige Abschaffung der Todesstrafe zu fordern. Auch die Haltung von Jean Genet, der die Todesstrafe nicht nur guthieß, sondern regelrecht feierte, indem er die ihr geweihten Menschen in einer christlich konnotierten Perversion zum Märtyrern stilisierte, wird präzise geschildert. Genet betrieb eine literarisch weit ausgereifte Verklärung dieser Todesart durch die Vorstellung einer damit einhergehenden Erlösung, die Derrida durchaus nicht unsympathisch oder verwerflich findet. In der Beschreibung eines realen Kriminellen von Robert Badinter, der die Abschaffung der Todesstrafe 1981 in Frankreich durchsetzte, ließen sich ganz ähnliche Vorstellungen finden. Auch ein echter Mörder begehrte den Tod durch die Guillotine.

Die literarische Verarbeitung des Themas, der Modus verschiedener Schilderungen, aber auch die Haltungen der Literaten nehmen im Seminar einen großen Raum ein. Dabei stellt Derrida oftmals sich widersprechende Positionen gegenüber, wenn er beispielsweise die christliche Position in der Bibel mit Genet oder die aufklärerischen Absichten Hugos mit den literarischen Interessen Maurice Blanchots oder mit einer in Nietzsches Bahnen gelenkten Analyse von Charles Baudelaires konfrontiert. Die in einem ethisch-politischen Diskurs unbedingt abzulehnende Todesstrafe kann immer noch in einem literarisch-ästhetischen Diskurs bejaht werden, der sich das Recht nehmen darf, vom Bösen fasziniert zu sein, und auf diese Weise mit der gesamten Sade’schen Tradition der Grausamkeit verbunden bleibt. Baudelaire geht noch weiter als Blanchot, wenn er Hugo und seinen Mitstreitern unterstellt, dass ihr Kampf gegen die Todesstrafe nur so vehement sei, weil sie sich selbst schuldig fühlen und insgeheim als potenzielle Täter, mithin als potenzielle Exekutierte betrachten würden.

Derrida führt diese Gegenpositionen aber nicht ins Feld, weil sie seine eigene Meinung wiedergeben, sondern weil sie die Argumente, die die Gegner der Todesstrafe anbringen, stärker, tiefer und glaubwürdiger werden lassen können. Die Literaten verraten ein Begehren nach der Todesstrafe, das so starke Argumente enthält, dass sie nicht ignoriert werden können. Derrida erreicht eine Vertiefung, die Jenseits eines naiven Gut-Menschentums eine Argumentationsstärke besitzt, die weit über eine naive Abscheu vor den Grausamkeiten hinausgeht, und damit die wirkliche politische Tragweite der Diskussion auf einer realistischen Ebene erfassen kann. Denn nur so können am Ende tatsächlich die wirkungsvollsten Argumente gefunden werden, die es ermöglichen, diese Art der Strafe endgültig abzuschaffen. In diesem Zusammenhang wird auch Immanuel Kants Haltung, die mittels der bekannten Denkfigur des kategorischen Imperativs auch die Legitimität der Todesstrafe erklärt, mit Nietzsches Willensphilosophie in Kontrast gesetzt, um so die ethischen Perspektiven, die bei der Befürwortung der Todesstrafe ins Spiel kommen, genau zu überdenken. Dem Sadismus kommt dabei nicht nur ganz offen wie bei Nietzsche oder Genet, sondern eben in versteckter, scheinheiliger Weise auch bei Kant, eine gewichtige erklärende Rolle zu, die Nietzsche und nach ihm Jacques Lacan schon erläutert haben.

Wie schon einige Jahre zuvor in seinem Text Den Tod geben (1994) liest und zitiert Derrida dabei vor allem aus Nietzsches bekannter Studie Zur Genealogie der Moral (1887), jenem Buch, in dem der Philosoph seine Ansichten über die Bildung des Strafwesens am deutlichsten darlegt. Derrida zitiert auch eine Stelle, die er schon in seinem früheren Text heranzog. Nietzsche erklärt dort, dass Gott sich selbst durch Jesus zum Schuldner erklärt habe, um die Menschheit von ihrer Erbsünde zu befreien. Doch während in Derridas früherem Text diese These eher wie ein letztes, eigentümliches Bonmot wirkt, hat er in seinem Seminar genügend Zeit Nietzsches Gedankengang systematisch zu entwickeln, sodass das wirkliche Drama, das mit der christlichen Erlösungslehre einherging, erst jetzt richtig deutlich wird. Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie sinnvoll es sein kann, Derridas Einladung anzunehmen und ihm in seinen längeren, weitergespannten, philosophischen Meditationen zu folgen. Denn viele seiner Thesen bekommen so ein stärkeres und verständlicheres Fundament.

Die Todesstrafe ist ein Buch, das zwar manche Längen aufweisen kann, aber einen enormen Willen zur didaktischen Vermittlung aufzeigt, sodass die Motive wie in einer dramatischen Handlung nicht nur dargestellt, sondern immer auch auf eine verständliche und faszinierende Weise erklärt werden. Derrida zitiert oft und lang und beweist einmal mehr durch die Originalität seines Stils, dass Philosophie immer noch eine wirkungsvolle Angelegenheit sein kann, wenn man sich nur die Freiheit nimmt, auf eine innovative Weise mit ihr umzugehen. Dazu gehört, das Spektrum ihrer Widersprüchlichkeiten und Paradoxien anzuerkennen, anstatt sie auf allzu eindeutige Thesen herunterzubrechen und dazu gehört sicherlich auch, ein deutliches Anliegen zu haben. Aufgrund einer Nähe zum Spektakel, die das Thema vorgibt (die Ausübung der Todesstrafe war immer eine öffentlich in Szene gesetzte, theatrale Sensation), werden hier die typischen Derrida-Themen – „Tod“ und „Ethik“ – zugleich behandelt und auf eine wirkungsvolle Weise miteinander verbunden. Die Lektüre ist daher für Neueinsteiger in seinen Diskurs besonders geeignet. Aber auch der geübtere Leser darf schon jetzt auf die Fortsetzung dieses Seminars gespannt sein.

Titelbild

Jacques Derrida: Die Todesstrafe I. Seminar 1999-2000.
Herausgegeben von Geoffroy Bennington, Marc Crépon und Thomas Dutoit.
Übersetzt aus dem Französischen von Markus Sedlaczek.
Passagen Verlag, Wien 2018.
456 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783709203255

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