Die traumverlorene Stadt

Hernán Rivera Letelier erzählt in seinem Roman „Die Liebestäuschung“ von einer großen Liebe, von sozialer Ungerechtigkeit in einer Salpetersiedlung, von Musik und dem Irrsinn des Lebens

Von Eleonore AsmuthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eleonore Asmuth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit brutaler Ehrlichkeit skizziert der Chilene Rivera Letelier, der selbst als Kind in der Atacama-Wüste gelebt hat, das Porträt einer Stadt, „die wie die Fata Morgana eines orientalischen Basars inmitten der Wüstenglut flimmerte“. Ohne Scheu und Verklärung erzählt er von menschlichen Abgründen und dem Elend in den Salpetersiedlungen, nicht ohne jedoch auch den kleinen Freuden und Wundern des Lebens, den aberwitzigen Schicksalen und Geschichten der Minenarbeiter mit teuflisch humoristischem Schreibstil einen entsprechenden Platz einzuräumen.

Schauplatz dieser Geschichte ist die chilenische Bergbausiedlung Pampa Unión, irgendwo in der Atacama-Wüste nahe der Hafenstadt Antofagasta. Es ist die Zeit der Salpeterkrise. Der Salpeterkrieg ist längst vergangen. Das „feierfreudige Städtchen“ ist der Ort, an dem am Wochenende die Salpeterarbeiter der Region zusammenkommen, ihren Lohn vertrinken und in den zahllosen Bordellen verprassen. „Mit seinen Freudenhäusern und Straßenprügeleien“ erinnert die Siedlung „stark an eine Stadt aus einem Cowboyfilm“.

Inmitten dieser Szenerie spielt sich die Liebesgeschichte zweier Menschen ab, die – zumindest auf den ersten Blick – unterschiedlicher nicht sein könnten. Die schöne Golondrina del Rosario, Tochter des Barbiers von Pampa Unión, ist Klavierlehrerin und Kinopianistin und – bis auf ein kleines erotisches Abenteuer – die personifizierte Keuschheit und wohl die aufrichtigste und wohlerzogenste Frau in der ganzen Siedlung. Ihre Liebe gilt Bello Sandalio, einem „Flegel von Trompeter“, der als wandernder Musiker von Kapelle zu Kapelle durch die Minensiedlungen zieht und der, so scheint es zumindest, die Frauen ebenso liebt wie den Alkohol.

Einst ließ sich der Trompeter von seiner „Dame am Klavier“ in einer lauen Sommernacht das Leben retten, bevor beide anschließend ihrer Leidenschaft freien Lauf ließen. Beglückt von dieser einen Nacht verzehrt sich die hübsche Pianistin seitdem vor Sehnsucht nach ihrem „schönen Wanderer aus der Hölle“. Und das Schicksal sollte sie noch einmal zusammen bringen: Aus Anlass des Präsidentenbesuchs in Pampa Unión kehrt Bello Sandalio in den Ort zurück, um als Trompeter in der Kapelle den feierlichen Empfang mitzugestalten.

Das Wiedertreffen der beiden Liebenden schildert Rivera Letelier dabei so anrührend und feinfühlig, dass der Kontrast zum derben Alltagsleben der Siedlungsbewohner kaum größer erscheinen könnte. Bello Sandalio wird tatsächlich Mitglied der „Literkapelle“, wie die Musikergruppe, die den Empfang bereiten soll, abschätzig genannt wird, weil sie überwiegend damit beschäftigt ist, zu saufen anstatt zu proben. Der Musiker bleibt also im Dorf und damit auch bei seiner hübschen Pianistin. Doch das Glück wird getrübt, je näher der Besuch des Präsidenten rückt.

Die Figuren, die neben den Protagonisten Golondrina und Bello Sandalio die Geschichte tragen, werden dem Leser anekdotenhaft vorgestellt, sodass er am Ende das Gefühl hat, sie zu kennen und trotz ihrer – teils skurril anmutenden – Schicksale und Fehltritte zu mögen. So komplettiert sich das Bild von Bello Sandalios Sauf- und Musikkumpanen Stück für Stück und auch über Golondrinas Familie und engste Freundin weiß der Autor eine Menge zu berichten.

Eine sozialkritische Komponente steht auf der Agenda des Autors weit oben. Für seine kritischen Darstellungen der Lebensverhältnisse von Arbeitern in Salpeter-Bergbausiedlungen erhielten seine Werke viel Lob und viele Auszeichnungen. Auch in „Die Liebestäuschung“ konstruiert die Rahmenhandlung, nämlich der geplante Besuch des Präsidenten, den viele Salpeterarbeiter und ganz besonders Golondrinas Vater für ihr Schicksal verantwortlich machen, diesen roten Faden.

Hernán Rivera Letelier hat mit „Fatamorgana de amor con banda de música“, wie die 2009 veröffentlichte Originalausgabe heißt, einen großen Roman über die Liebe zweier Menschen, die Liebe zur Musik und über die Menschen im allgemeinen geschrieben. Sein offener und ehrlicher Schreibstil macht dabei nicht Halt vor den Tiefen der menschlichen Abgründe, vor Elend und Leid, lässt jedoch auch Platz für Romantik und Leidenschaft, ohne dabei zu verklären oder kitschig zu sein. So verleitet sein von Humor und Ironie getragener Stil zum Schmunzeln und Nachdenken zugleich. Rivera Letelier erweist sich hier einmal mehr als Meister der literarischen Regie: Mit unfassbarem Geschick verwebt er die einzelnen Handlungsstränge und führt die Geschichte auf ein explosives Finale hin.

Titelbild

Hernán Rivera Letelier: Die Liebestäuschung. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Insel Verlag, Berlin 2013.
315 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783458175650

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