Empfehlung, Lenz zu lesen

Über eine eher pflichtgemäße als engagierte Neuauflage von Hermann Lenz’ Roman „Neue Zeit“ zu dessen hundertjährigem Geburtstag

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus Anlass des 100. Geburtstages von Hermann Lenz erscheint im Suhrkamp/Insel-Verlag der Roman „Neue Zeit“ in einer Neuauflage. Man muss sagen: ein wenig unvermittelt. Weder kann man davon ausgehen, dass Hermann Lenz einer größeren Leserschaft so bekannt ist, dass für sie sein Hundertjähriges Anlass zur Neulektüre ist. Noch wird man mit dem Roman „Neue Zeit“ sehr viel anzufangen wissen. Ein erläuterndes Nachwort hätte also gute Dienste tun können. Indes, es fehlt. Stattdessen sind dem Band einige bislang unveröffentlichte Briefe aus einem Briefwechsel zwischen Lenz und seiner späteren Frau, der Kunsthistorikerin Johanna Trautwein, beigefügt. Aber auch diesen Briefen fehlt jegliche Erläuterung – eine editorische Notiz verweist darauf, dass eine „detaillierte Kommentierung“ einer noch zu leistenden Edition des Briefwechsels „vorbehalten bleiben“ muss. Immerhin wird, wer den Roman kennengelernt hat, zur Kenntnis nehmen, dass die Briefe aus der Zeit stammen, in der der Roman spielt, den Jahren 1937 bis 1945. Kurzum: Die Neuauflage ist zu begrüßen, aber die Mühe der Verfassung  eines Nachwortes wäre Autor und Werk angemessen gewesen. So erscheint das Ganze als lieblose Verpflichtung dem Autor gegenüber – peinlich für den Verlag.

Hermann Lenz ist ein bedeutender Autor – und diese Aussage steht heute wieder in seltsamem Widerspruch zu seiner Bekanntheit. Wie es schon einmal war: Als im April 1953 Thomas Mann den Erzähler Lenz kennenlernte, vermerkte er im Tagebuch: „Etwas selbständig Neues, abseits von Kafka“ und an anderer Stelle „merkwürdig, originell, anregend“. Zu dieser Zeit lebte Lenz ansonsten kaum bemerkt und unerkannt in Stuttgart im vom Krieg unzerstört gebliebenen Haus seiner Eltern und arbeitete seit 1951 als Sekretär beim Verband deutscher Schriftsteller in Baden Württemberg. „Abseits zu bleiben“, hier in der Provinz, dort, wo das Alte, das Überlieferte als Teil einer identitätsstiftenden Vergangenheit noch zu spüren war, das war sein Programm. Ein „Erzähler“, nannte ihn Heinrich Vormweg, „der sich vor den dröhnenden Entwicklungen zurückzieht und in beherrschter, konservativer Haltung sich seine eigene Realität schafft, eine magische und gebrochene […] Spiegelwelt.“

Diese Welt entstand vor allem in dem acht Romane umfassenden autobiografischen Zyklus, in dessen Mittelpunkt Eugen Rapp, Lenz’ Alter Ego, steht. Der Zyklus beginnt in jener Vorzeit, da Württemberg noch von einem König regiert wurde („Verlassene Zimmer“, 1966). In die Zeitenwende, die mit dem Ersten Weltkrieg anbricht, wird Eugen Rapp geboren: 1913, das Geburtsjahr des Autors. Es folgen die Romane „Andere Tage“ (1968) über die Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus und „Neue Zeit“ (1975). Die Nachkriegszeit bis zur Währungsreform steht im Mittelpunkt des Romans „Tagebuch vom Überleben und Leben“ (1978). In „Ein Fremdling“ (1983) und „Der Wanderer“ (1986) reflektiert Lenz über seine, Eugen Rapps, Außenseiterrolle als „freier Schriftsteller“ – wozu auch ein für Lenz niederschmetternder Auftritt vor der „Gruppe 47“ im Jahre 1951 gehörte. Ein Wende erfährt das Leben des abseitigen Schriftstellers Lenz/Rapp, als Peter Handke 1973 in der Weihnachtsausgabe der Süddeutschen Zeitung mit seiner „Einladung, Hermann Lenz zu lesen“ den Literaturbetrieb auf Lenz aufmerksam machte: einen „poetischen Geschichtsunterricht“ meinte er zu entdecken, „voller Anmut, voller Würde.“ Er empfinde beim Lesen – „Glück“!

Fortan erschien Lenz im Insel Verlag. Dieser Neuanfang spiegelt sich in Eugen Rapps Leben, wie es in „Seltsamer Abschied“ (1988) erzählt wird. 1997, ein Jahr vor seinem Tod, erschien als letzter Band der Eugen-Rapp-Reihe „Freunde“.

„Neue Zeit“ ist vielleicht der bekannteste Roman von Hermann Lenz. Es geht um die Jahre 1937 bis 1946. Da passt sein Neuerscheinen in eine Zeit, die neuerlich nach „unseren Müttern, unseren Vätern“ – so der Titel eines TV-Dreiteilers im Jahre 2013 – und ihrem Kriegserleben fragt. Eugen Rapp ist einer der jungen Leute, denen das Dröhnen der Nazis missfällt. Die Studenten im München – der Roman ist im Übrigen eine sehr konkrete Stadtbeschreibung aus dem München jener Jahre – halten es lieber mit den Traditionen bildungsbürgerlicher Errungenschaften. In Kunst und Literatur lässt sich eine andere Welt erträumen. Stillstand, die Flucht in eine idealisierte Vergangenheit, das Wien der Kaiserzeit. In den beigefügten Briefen tauschen sich Lenz und Trautwein über ihre Lesefluchten aus und man kann diese Briefe als ergänzendes Material lesen.

Die jungen Leute sind keine Widerständler. Sie handeln nicht. Und so gerät auch Eugen Rapp in den Krieg: als Soldat zunächst in Frankreich, dann in Russland. „Doch Genaues weißt du nicht, es ist dir auch gleichgültig, denn du wirst […] weiterhin durch den Krieg gehen als Schlafwandler.“ Lenz’ Sprache schafft in diesem Roman eine träumerische Abseitigkeit, in der das Grausame des Krieges nicht stattfindet. Sie ist Ausdruck der Flucht Eugen Rapps in eine andere innerliche Welt. In ihr überlebt er den Krieg, gerät, zurückbeordert an die Westfront, in amerikanische Gefangenschaft, macht als „german nazi“ die Tour durch verschiedene Gefangenenlager in den USA. Von dort wird er schließlich wieder nach Europa verschifft. Das Buch endet in Le Havre, wo er das Schiff verlässt.

Man hat Sympathie mit diesem Eugen Rapp. Sein träumerisches Abseits schützt ihn vor der schlechten Tat. Aber Vorsicht: Die Haltung Rapps ist nicht mit der forsch entschuldigenden „inneren Emigration“ zu verwechseln, mit denen viele Nachkriegsdeutschen, insbesondere auch in Deutschland verbliebene Schrittsteller, ihre Haltung während der Nazizeit idealisierten. Überhaupt fehlt Eugen Rapp jegliches Missionarische. Aber er lebt mit bewundernswürdiger Konsequenz seine Abseitigkeit. Unspektakulär, bescheiden, ehrbar. Diese altmodisch anmutende Zurückhaltung ist nicht populär – aber bis heute lesenswert!

Titelbild

Hermann Lenz: Neue Zeit. Roman. Mit Briefen von Hermann Lenz.
Insel Verlag, Berlin 2013.
400 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783458175674

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