Ein Däne in Deutschland

Christian Wiebe untersucht die Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts

Von Christof RudekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Rudek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sören Kierkegaards Bedeutung für die Geschichte der Philosophie und Theologie ist heute unumstritten. Auch außerhalb dieser Disziplinen ist sein Name weithin bekannt. Keine Zeitung, die etwas auf sich hält, verzichtete zu seinem 200. Geburtstag im Mai dieses Jahres auf eine Würdigung des dänischen Denkers und Schriftstellers. Dabei verlief die Rezeption von Kierkegaards Werk nach seinem frühen Tod 1855 zumindest außerhalb der skandinavischen Länder zunächst schleppend. Erst um 1900 setzt eine breitere Rezeption in Europa ein, und zwar zunächst im deutschsprachigen Raum.

Christian Wiebe befasst sich in seiner 2012 erschienenen Dissertation „Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920“ mit dieser frühen Phase der Auseinandersetzung mit Kierkegaard in Deutschland und Österreich. Der Untertitel des Buches verweist auf die genauere Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands: Zum einen geht es Wiebe nicht um die philosophische oder theologische Kierkegaard-Rezeption, sondern um die literarische. Dabei fasst er den Begriff des Literarischen relativ weit: Essays und Zeitschriftenartikel werden diskutiert, ebenso Tagebucheintragungen und Briefe, nicht zuletzt um eine direkte Auseinandersetzung einzelner Autoren mit Kierkegaard nachzuweisen.

Zum anderen beschränkt sich Wiebe auf Texte, die etwa im Zeitraum zwischen 1900 bis 1920 entstanden sind. Dies hängt unmittelbar mit der zentralen These der Arbeit zusammen: Um 1920 setzt allmählich die Kanonisierung Kierkegaards ein, die den Autor in den Kontext der in Deutschland und Frankreich aufkommenden Existenzphilosophie stellt. Kierkegaard wird zum ‚Vater der Existenzphilosophie‘. Auch wenn diese Einordnung primär die Philosophiegeschichte betrifft, wirkt sie sich nach Wiebe auf die literarische Kierkegaard-Rezeption aus. Vor 1920 dagegen, so die These, zeigt sich die Rezeption vielgestaltiger: Schriftsteller beziehen sich auf ganz unterschiedliche Aspekte von Kierkegaards Werk und verarbeiten sie auf vielfältige Weise. Durch die Wahl des Untersuchungszeitraums versucht sich die Arbeit von der bisherigen Forschung zur literarischen Kierkegaard-Rezeption abzusetzen, die den existenzialistischen Aspekt betont und den Schwerpunkt auf Texte legt, die nach 1920 entstanden sind.

Trotz dieser zeitlichen und disziplinären Eingrenzungen befasst sich die Arbeit mit einer Fülle von Texten. Sie werden in sechs größeren Kapiteln besprochen, deren Überschriften schlagwortartig sechs unterschiedliche Rezeptionsweisen benennen: ‚kulturkritisch‘, ‚religiös‘, ‚essayistisch‘, ‚psychologisch‘, ‚existenziell‘ und ‚parabolisch‘. Allerdings erweist sich im Verlauf der Arbeit die These der Heterogenität der Zugänge zu Kierkegaard vor 1920, die sich in diesem sechsfach untergliederten Aufbau spiegelt, als fragwürdig. Denn die stets umsichtigen Werkinterpretationen, die Wiebe vornimmt, kommen zwar zu plausiblen Ergebnissen – diese Ergebnisse widersprechen jedoch These und Aufbau der Arbeit. Die Kapitelüberschriften und die Zuordnung der Autoren und Texte zu diesen Kapiteln sind in vielen Fällen zweifelhaft, und auch die Aufnahme mancher der besprochenen Texte in die Untersuchung ist wenig nachvollziehbar.

Die konservative Kulturkritik in der Zeitschrift „Der Brenner“, die bei Wiebe die ‚kulturkritische‘ Richtung der Kierkegaard-Rezeption darstellt, könnte ebenso gut der religiösen oder essayistischen Rezeption zugeschlagen werden, ist sie doch religiös inspiriert und findet ihren Ausdruck in einer Reihe von Essays und Zeitschriftenartikeln. Vor allem aber stellt sich die Frage, warum sie in Wiebes Buch überhaupt besprochen wird. Gehört sie nicht eher zur philosophischen oder theologischen oder – wenn man so will – publizistischen Kierkegaard-Rezeption?

Das Gleiche ließe sich über Ernst Blochs Buch „Geist der Utopie“, das bei Wiebe zur ‚existenziellen‘ Rezeption gehört, und über die Texte Rudolf Kassners und Georg Lukács’ sagen, die im Kapitel zur ‚essayistischen‘ Rezeption besprochen werden. Zwar rückt mit der Literarisierung des Essays bei Kassner zumindest ein genuin literarischer Aspekt in den Blick. Da diese Literarisierung sich aber wesentlich der Übernahme gleichnishafter Elemente in die Form des Essays verdankt, ist sie in der Terminologie Wiebes das Resultat einer ‚parabolischen‘ Rezeption und wäre entsprechend in diesem Kapitel unterzubringen.

Der Abschnitt über die ‚religiöse‘ Kierkegaard-Rezeption zeigt, dass sich auch in den untersuchten Texten von Franz Werfel und Paul Adler der religiöse mit einem kulturkritischen Impuls verbindet. Und die Religiosität, um die es hier geht, ist eine, die in Anlehnung an Kierkegaards religiöse Vorstellungen allein die Innerlichkeit des einzelnen Subjekts betrifft – und damit durchaus existentielle Züge im Sinne der Existenzphilosophie trägt.

Ähnliches gilt auch für die ‚psychologische‘ Rezeption. Wenn Wiebe hier in Ernst Weiß’ Roman „Die Galeere“ Situationen der Entscheidung zwischen verschiedenen Lebensentwürfen untersucht, dann geht es um einen ebenso existenziellen wie psychologischen Aspekt.

Das Kapitel zur ‚parabolischen‘ Kierkegaard-Rezeption schließlich, das allein Franz Kafka gewidmet ist, zeigt, dass Kafkas als Weiterführung der Parabeln Kierkegaards deutbares parabolisches Verfahren im Dienst der Darstellung der existentiellen Situation des Menschen steht: Das Subjekt sieht sich der Notwendigkeit einer Erkenntnis seiner Situation in der Welt gegenüber, die jedoch nie abschließend geleistet werden kann.

Damit zeigen Wiebes Interpretationen auf den zweiten Blick, dass die frühe deutsche Kierkegaard-Rezeption entgegen seiner These sehr wohl eine grundlegende Gemeinsamkeit aufweist – zumindest dann, wenn man die publizistische Auseinandersetzung beiseite lässt und allein die im engeren Sinn literarische Rezeption betrachtet. Was die Autoren hier im Anschluss an Kierkegaard gestalten, ist die Situation des Einzelnen, der in seinem Verstehen und Handeln auf seine Subjektivität zurückgeworfen ist. Die Faszination Kierkegaards für Schriftsteller scheint damit gerade in der Affinität seines Denkens zur Literatur zu liegen: Während die Philosophie sich im Wesentlichen mit der Erkenntnis des Allgemeinen befasst, hat es die Literatur immer mit dem Besonderen, Individuellen zu tun. Bei Kierkegaard jedoch macht die Philosophie einen Schritt auf die Literatur zu, und das nicht nur wegen Kierkegaards stilistischer Könnerschaft und seiner Integration fiktionaler Abschnitte in die Argumentation, sondern vor allem durch die Wahl des einzelnen Subjekts als Erkenntnisgegenstand. Dass Kierkegaard damit bei Literaten auf großes Interesse gestoßen ist, verwundert nicht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Christian Wiebe: Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2012.
440 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783825361112

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch